Die Wahrheit: Dederow wird nicht untergehen
Wehrhaftes DDR-Dorf am Tag der deutschen Einheit nördlich von Berlin entdeckt. Spezialisten erkunden nun den merkwürdigen Ort.
Erst jetzt, kurz nach dem Tag der deutschen Einheit, wurde bekannt, dass nordwestlich von Berlin ein Dorf existiert, in dem sich eine Gruppe von offensichtlichen Einheitsverweigerern niedergelassen hat. Im munitionsverseuchten Sperrgebiet der Kyritz-Ruppiner Heide liegt es, und auf dem riesigen, stümperhaft zusammengescharrten Mauerwall aus Betontrümmern steht drohend für jeden, der sich nähert: „Dederow bleibt frei!“
Ein Munitionsräumroboter war als Erster auf dieses gewaltige Bauwerk gestoßen, aus dem in regelmäßigen Abständen die Stacheln von hölzernen Wachtürmen herausragten. Was auf den Bildern der ausgesandten Beobachtungsdrohne zu sehen war, wurde im Leitstand des Kampfmittelräumdienstes irritiert zur Kenntnis genommen. Hatte man unversehens die Dreharbeiten zu einem Ostalgiefilm gestört?
Da fuhren beige Trabbis, braungelbe Simson-Mopeds und moosgrüne W50-Laster. Auf den Feldern zogen hellblaue ZT300-Traktoren ihre Spur. Es liefen Menschen mit Dederonschürzen und vielfarbigen Einkaufsbeuteln umher, gekleidet in den Chic der frühen achtziger Jahre. Eine Gruppe Thälmannpioniere kam mit ihrer Lehrerin aus der Schulbaracke. Auf der Betonbühne am Festplatz probte ein Arbeiter- und Bauernchor das Programm für die Feierlichkeiten zum nahenden Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik.
Plötzlich wurde die Drohne mit einem aufschießenden Fangnetz gekapert. Ein Komitee aus Männern in braunen Anzügen und betongrauen Uniformen vor dem Rathaus baute sich dem Eindringling gegenüber auf. Ein Anzugträger ergriff das Wort: „Truppen des faschistisch-US-imperialistischen Klassenfeindes! Wir werden auf jede weitere Grenzverletzung mit angemessenen Vergeltungshandlungen reagieren. Gemäß den Beschlüssen des XXVI. Parteitages der KPdSU und den Handlungsvorgaben des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik über Abrüstung und Entspannung von 1981 sind wir jedoch dazu angehalten, zuvor eine unbewaffnete Abordnung zu empfangen, um sinnloses Blutvergießen zu vermeiden.“
Deeskalationsexperten in Zivil
Nach einigem Hin und Her wegen der Zuständigkeit werden nun Deeskalationsexperten der Bundespolizei in Potsdam eingeschaltet, die zwei Beamte in Zivil an den Ort des Geschehens schicken. Robin Wittkamp und Doreen Schulze-Redlinski betreten als Erste die noch immer völkerrechtlich unidentifizierte Nicht-EU-Zone. Was sie vorfinden, übertrifft selbst ihre kühnsten Erwartungen. Mit der üblichen Strategie der vorsichtigen Infragestellung ist den Ostalgie-Aktivisten allerdings nicht beizukommen.
„Den Ministerrat der DDR gibt es doch nicht mehr“, erklärt Schulze-Redlinski, ihr liegt immer noch der liebliche Begrüßungssekt von der Krim, Jahrgang 1984, auf der belegten Zunge. Die Ortsvorsteherin, die sich als Sabrina Fätke vorstellt, pariert: „Sie meinen den Staatsrat. Entscheidend ist aber der Ministerrat. Der tagt im Verwaltungsgebäude der ehemaligen LPG Aurora Sandferkel. Darf ich vorstellen: Genossin Schmitt, Genosse Aschenbrenner, Genosse Wassermann …“ Und es folgen 39 Namen und zugehörige Genossen, die die eingedrungenen westlichen Klassenfeinde amüsiert mustern.
„Aber die NVA, die Armee mit ihrem Verteidigungsauftrag und ihrer Führung – die gibt es doch nicht mehr!“, ereifert sich Wittkamp, der zweite Unterhändler. „Wie kommen Sie denn darauf?“, sagt ein älterer Herr mit narbigem Lederstrumpfgesicht, der sich als Armeegeneral Kortschuss vorstellt. „Der Nationale Verteidigungsrat tagt im Hauptbau des verlassenen Stützpunkts der glorreichen Sowjetarmee Sergeji Gregorjewitsch Ljubjinskij. Niemand hat die Absicht, ohne Grund einen bewaffneten Konflikt heraufzubeschwören. Aber wir sind auf den Einsatzfall vorbereitet! Schließlich gilt der alte Spruch: Wer A sagt, muss auch B und C sagen.“
„Danke, Genosse General – wir wollen annehmen, dass der US-imperialistische Klassenfeind diesen Wink mit dem Mauerpfahl verstanden hat. Unsere Auslandsaufklärung versorgt uns wohl mit Nachrichten über den Zustand der seit 1990 besetzten Bezirke. Erfreulicherweise wird gemeldet, dass sich die unterdrückten Ostvölker mehr und mehr nach einer Umkehr der Verhältnisse sehnen.“
Vorräte der Waffenbrüder
„Sie wollen zurückkehren zu einer Welt ohne funktionierende Lebens- und Genussmittelversorgung? Ohne TV?“, fragt Schulze-Redlinski fassungslos. Bürgermeisterin Fätke antwortet ohne Zögern: „Es ist unsere Hauptverpflichtung, den Genossinnen und Genossen jegliche Einbuße an Lebensqualität zu ersparen, die mit der faschistisch-kapitalistischen Annexion der Deutschen Demokratischen Republik einherging. Alles, was wir brauchen, lagert im Vorratsraum, den uns die sowjetischen Waffenbrüder hinterlassen haben. Genossin Schütte, die Führung bitte!“
Die ganze Palette der Ostprodukte, von „Alfons Zitterpudding“ bis „Zörbiger Überrübe“, stapelt sich in den kathedralengroßen Kavernen unter dem märkischen Sand, daneben Berge von Dosen mit kyrillischen Schriftzeichen. Fätke ergänzt: „Frisches Obst und Gemüse bauen wir auf den weiten Feldern der VEB Vitafrucht und Gartenfreude an und haben sogar Karpfen im Dederower Moorteich. Abends gibt’s eine Wiederholung sämtlicher Sendungen des Deutschen Fernsehfunks aus Adlershof. Wir stehen jetzt im Jahr 1979. Das ist für die Freie Deutsche Jugend zugleich eine Geschichtslektion. West-Fernsehen wird nur zu Schulungszwecken der politischen Kader eingesetzt.“
„Keine Smartphones, keine PCs, kein Internet?“, fragen Wittkamp und Schulze-Redlinski entsetzt. Fätke wiegelt ab: „Wir haben eine Forschungsgruppe darauf angesetzt, eine für alle Dederower zufriedenstellende Möglichkeit der drahtlosen feldtelegrafischen Verbindung sicherzustellen. Doch die Vernebelungsstrategien des imperialistischen Klassenfeindes verfangen hier draußen nicht.“ Wittkamp versucht „Vernebelungsstrategie“ zu googeln, hat aber keinen Empfang. Schulze-Redlinski will noch etwas sagen, ist aber sprachlos. „Wenn also weiter nichts ist? Genossinnen und Genossen – die Arbeit ruft!“, sagt Fätke. Die stählern blickenden Thälmannpioniere geleiten die Besucher wortlos zum Mauerdurchlass.
Laut hallen trutzige Kinderstimmen über Dederows antifaschistischen Schutzwall, und zwei Dutzend entschlossene Ärmchen vollführen den Pioniergruß: „Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit! – Immer bereit!“ Dederow wird nicht kampflos untergehen. So viel scheint sicher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?