Die Wahrheit: Grausiges Gerümpelgewölbe
Annes Attacke brach ohne Vorwarnung über Bernd herein. "Am Samstag", sagte sie eines unschuldigen Abends, "räumen wir den Keller auf!" Bernd fiel aus allen Wolken.
"Was? Äh …", stotterte er und suchte fieberhaft nach einer Ausflucht. Annes Augen jedoch verengten sich zu Schlitzen, und er begriff, dass er auf verlorenem Posten stand. "Was ist? Hast du was dagegen?", zischte sie. "Aber nein, wir haben das viel zu lange vor uns hergeschoben!", erwiderte er und versuchte sogar zu lächeln.
Seit Monaten drängte Anne darauf, im Keller endlich Ordnung zu schaffen. Im Verlauf der Jahre hatte sich dort das reine Chaos ausgebreitet, denn alles, was oben in den Zimmern keinen Platz mehr fand, wurde ohne viel Federlesens ins Untergeschoss transportiert und abgeladen. Der Keller sah mehr und mehr so aus, als ob in ihm ein lokal begrenztes Erdbeben gewütet hätte, und es war vollkommen aussichtslos, in diesem Durcheinander nach etwas Bestimmtem zu suchen.
"So geht es nicht weiter!", hatte Anne irgendwann gesagt. Bernd allerdings grauste vor dem Aufräumen des Gerümpelgewölbes, und er wurde einfallsreich. Mal sorgte ein geheimnisvoller Defekt in der Stromleitung dafür, dass im Kellergeschoss kein Licht eingeschaltet werden konnte, mal schneite ein alter Freund aus Hamburg zu einem überraschenden Wochenendbesuch herein, und einmal war der Kellerschlüssel unauffindbar. Erst Tage später tauchte er im Wäschekorb wieder auf.
Anne aber war durch die Häufung eigenartiger Zufälle misstrauisch geworden. "Hast du da etwa deine Finger im Spiel?", fragte sie Bernd. Er setzte seine unschuldigste Miene auf und schüttelte den Kopf. Doch es war klar, dass er es nicht riskieren konnte, das Entrümpelungsprojekt noch einmal im letzten Moment durch ein unglaubliches Ereignis zu torpedieren.
Insofern hatte er sich damit abgefunden, dass die Kellerexpedition diesmal nicht zu vermeiden war. In der Nacht von Freitag auf Samstag indes wachte er gegen drei Uhr auf; er fühlte sich, als ob eine Kreissäge durch seine Eingeweide fuhr. Zum Abendessen hatte er die Seehechtfilets gebraten, die seit Monaten in der Gefriertruhe lagen und dringend verarbeitet werden mussten. Dass es so dringend war, hätte er allerdings nicht gedacht. Er würgte, schaltete das Licht an und sprang aus dem Bett. Gleichzeitig stürzte Anne unter der Decke hervor. An ihrer grünen Gesichtsfarbe war abzulesen, dass es ihr nicht besser ging, und so kam es mitten in der Nacht zu einem Wettlauf Richtung Toilette.
Die beiden schwebten das ganze Wochenende zwischen Leben und Tod, grün im Gesicht und von den Kreissägen in ihren Bäuchen zerrissen. "Dass du so weit gehen würdest, hätte ich nicht gedacht!", hauchte Anne. Natürlich schwor er, dass er sie niemals absichtlich vergiften würde, bloß um sich vor dem Kelleraufräumen zu drücken. Dennoch zog sie es vor, ihn mit dem Vorhaben nie wieder zu behelligen und wenige Wochen später - als er für zwei Tage verreist war - alleine Ordnung im Gerümpelgewölbe zu schaffen.
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