: Die Verschlungenen der Vorstädte
■ ...und ihr erotischer Showdown: Wie der Tango seine Geschichte erzählen kann / Die Gruppe Arrabal im Schlachthof
Im vollbesetzten Schlachthof führte samstags die Gruppe Arrabal einem begeisterten Publikum vor, aus welcher Sehnsucht der Tango geboren wurde. Seine Texte und seine Musik kommen
Die einst unbeschwerten keuschen Volkstänze mit werbenden Männern und sich entziehenden Frauen wandelten sich in den Hinterhöfen, Lokalen und Bordellen von Buenos Aires in das erotische Vorspiel getanzter Verschlingung
aus der Wurzellosigkeit der europäischen Einwanderer in Buenos Aires, deren große Lebenshoffnung schon bald in den tristen Vorstädten zerbrach. Der spanische Gitarrist und Sänger Ramon Rejueira nahm mit samtener Stimme das Publikum mit auf seine musikalische Reise von der galizischen Heimat in Nordwestspanien hinein in die erbarmungslose Neue Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Der Abschied, die Trennung, der Schmerz des Verlassenseins blieb Ausdruck der Musik, auch wenn sie reicher, getragener und schriller wurde. Und die einst unbeschwerten keuschen Volkstänze mit werbenden Männern und sich entziehenden Frauen wandelten sich in den Hinterhöfen, Bordells und Lokalen von Buenos Aires zum erotischen Vorspiel getanzter Verschlingung derer, die ihrer Einsamkeit nicht entkommen.
Carolina Boselli aus Buenos Aires und Jorge Rodriguez aus dem argentinischen Cordoba tanzten diese Geschichte des Tangos nach: schwebend die hervorragende Tänzerin noch beim galizischen Volkstanz, mondän dann mit dem Kumpan aus der Halbwelt. Der schöne Argentinier stampfte den Stiefeltanz der Gauchos und stellte den Macho der Vorstadt in verschiedenen Variationen vor.
Allein die Idee, den Tango tanzend, singend und spielend (ohne Bandoneon, nur mit Gitarre und Geige) in seiner Geschichte zur Bühnenschau zu machen, ist einleuchtend und faszinierend. Tango ist Musik, Gesang und Tanz.
Alles gemeinsam zeigt, was ihn ausmacht, den Tango, der, in ärmlichsten Verhältnissen geboren, innerhalb weniger Jahre die ganze Welt eroberte.
Die Darstellung auf der Bühne zog nach anfänglichen Längen in den Bann. Aus dem Wechsel der Situationen und der Ausformung von zynischer Halbwelt und offener Anziehung der Geschlechter trat nicht nur die getanzte Sehnsucht hervor, sondern auch allerlei komische Wendungen und grotesker Situationswitz: Tango als existentialistischer Ausdruck der Verlorenheit und zugleich scharfer, spöttischer Protest dagegen.
Manche plötzlichen Drehungen erfuhren aus der tänzerischen Darstellung eine einleuchtende und witzige Interpretation ihrer möglichen Entstehung. Es war wie Tanztheater. Es war, als hätte der Tango selber, von Annette Meisls Geigenspiel begleitet und von seinen Anhängern gefeiert, eine gute Vorstellung gegeben. Peter Burmeister
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