: Die Übermacht der Angst
Wenn der Mörder der Tochter zurückkehrt: das Psychodrama „Nichts ist vergessen“ (20.15 Uhr, ARD)
Irgendwann muss das Unvorstellbare geschehen. Die Rollen des Einkaufswagens klackern laut über die Fliesen des Supermarktes. Schnell und schneller. Die Kamera folgt der Mutter auf den Fersen, die den Wagen so hektisch schiebt, die ihre kleine Tochter Lilli fest an der Hand hält und mitzieht. Plötzlich – ein unachtsamer Moment – und Lilli ist weg. Die Frau rennt und rennt, durch die Gänge des Supermarktes, als suche sie einen Ausweg aus einem Labyrinth. Sie atmet. Schnell und laut, alle anderen Geräusche sind ausgeblendet. Und da – plötzlich steht er ihr gegenüber. Er, mit Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, mit dunkler Sonnenbrille. Er, Olaf Stahmann, blickt ihr in die Augen, der Mutter, deren erste Tochter vor zehn Jahren sein Opfer wurde. Das Unvorstellbare ist passiert. Die Angst wieder übermächtig.
Die direkte Konfrontation zwischen Opfer und Täter, um diesen Moment des Unerträglichen lässt Regisseur Nils Willbrandt in seinem Debüt seine Figuren kreisen. Gut und Böse, Reue und Rache bleiben zum Glück abstrakte Kategorien. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, sowohl Täter als auch Opfer, mit ihren tiefen Traumata und ihren Versuchen, dennoch als Menschen weiterzuleben. Denn „Nichts ist vergessen“, so der Titel des Films – weder auf Seiten der Opfer, dem Ehepaar Kai und Maria Wagner, die nach dem Mord an ihrer ersten Tochter aus dem Dorf weggezogen sind, eine zweite Tochter, Lilli, haben und ihre Angst in einem idyllischen Einfamilienhaus eingeschlossen haben. Noch auf Seiten des Täters, den Willbrandt nicht als zu verurteilende Bestie zeigt, sondern als an sich selbst verzweifelnden Triebtäter, der sich aus dem inneren Abgrund niemals befreien können wird.
Dass dies gelingt, liegt auch an den exzellenten Schauspielern: Jörg Schüttauf als von Panikattacken geplagter Vater, der sich nur mit einer Waffe zu schützen weiß; Inka Friedrich als Mutter, die irgendwann sogar ein Gespräch mit dem Täter in Erwägung zieht und am Ende einen wegweisenden Anruf tätigen wird; Volker Bruch, der ohne viele Worte einen Täter verkörpert, der schließlich in einer Umarmung von seiner Schwester als Mensch neu angenommen wird.
Sie alle schaffen ein leises Drama, das an keiner Stelle in die Falle künstlicher Dramatik abgleitet. Was reale Eltern durchleben, wenn sie ein Kind verlieren, unter den schlimmsten vorstellbaren Umständen, einem tödlichen Missbrauch, rückt emotional nahe – ohne jemals die Fragen aus den Augen zu verlieren, die in der gesellschaftlichen Debatte schnell untergeordnet werden: Was es bedeutet, auch in Extremfällen dieser Art Ja zum Rechtsstaat zu sagen. Und wie viel ohne Todesstrafe und Selbstjustiz auszuhalten sein muss. SUSANNE LANG