: Die USA „ziemlich sicher auf dem falschen Gleis“
Nach dem kalten Krieg der Katzenjammer? Der stotternde Motor der Politikmaschine bringt die USA bei der Lösung der gigantischen Haushaltsfrage nicht weiter/ Die Wahlkampflogik überdeckt jede tiefere Auseinandersetzung ■ Aus Washington Rolf Paasch
Capitol Hill hat gekreißt und die Maus der Defizitsreduzierung rutscht langsam aber sicher ans Tageslicht. Die Vereinigten Staaten werden — mit über dreiwöchiger Verspätung — voraussichtlich wieder einen Haushalt haben und sind damit erst einmal gerettet. Wirklich?
Der politische Alltag jedenfalls wird so weitergehen, als sei die Welt zwischen Seattle und Miami wieder in Ordnung. Die Kongreßmitglieder dürfen nach den Marathonsitzungen der vergangenen Wochen in ihre Wahlkreise zurückkehren; ein Drittel von ihnen, um sich bei den Kongreß- (und Gouverneurs-)Wahlen am 6. November erneut bestätigen zu lassen.
Dennoch müssen einige diesmal sogar um ihre Wiederwahl fürchten. Denn vom Präsidenten bis zum letzten Abgeordneten im Repräsentantenhaus hat sich die Washingtoner Politelite mit den schier endlosen Budgetverhandlungen den Spott und Zorn der BürgerInnen eingehandelt. Selten waren Zynismus und politische Apathie in den USA so weit verbreitet wie heute. 79% aller AmerikanerInnen glauben mittlerweile, daß ihr Land „ziemlich sicher auf dem falschen Gleis“ ist, für das Land des Optimismus und der Hoffnung eine erschreckend hohe Zahl.
Und dennoch, nach den Haushaltskürzungen um rund 40 Milliarden Dollar für dieses, und angeblich 500 Milliarden Dollar über die nächsten fünf Jahre wird es im Wahlkampf (und danach) keine Autopsie der budgetären Fehlgeburt geben. Nicht um die strukturellen Defizite eines (haushalts-)politischen Prozesses, der jedes Jahr absurdere Scheinlösungen produziert, wird es im Wahlkampf gehen, sondern darum, welcher Volksvertreter in welcher Abstimmung das Sakrileg begangen hat, für eine Steuererhöhung gestimmt zu haben. Wer geglaubt hatte, die Bemühungen zur Reduzierung des astronomischen Haushaltsdefizits würden in eine Umverteilungsdiskussion münden, hat die politische Kultur in den USA ebenso falsch eingeschätzt wie der, der nach den Truppenentsendungen an den Golf eine Debatte über die zukünftige Energiepolitik erwartet hatte. Die Einsicht, daß sich das politische System der USA mit zunehmendem Handlungsdruck immer unfähiger zur Problemlösung erweist, läßt sich im Wahlkampf äußerst schlecht vermarkten.
Mit der von der Verfassung vorgegebenen Ausrichtung auf eine Verhinderung jeglicher Machtkonzentration war das politische System in den USA mit seinem institutionalisierten Zwang zum Kompromiß (checks and balances) noch nie besonders „effizent“. Doch in jüngster Zeit droht dieses Prinzip aus dem Ruder zu geraten. „Die Checks haben die Balances überwältigt“, so der Londoner 'Economist‘. Nach der Auflösung des „New-Deal“-Dogmas in den 80er Jahren und dem Ende des kalten Kriegs so diagnostizierte die sonst nicht gerade für ihre Systemkritik bekannte 'New York Times‘, „ist das amerikanische politische System unfähig, die kritischen Fragen zu definieren und zu debattieren, von deren Lösung ganz zu schweigen“.
Jeder ist seiner Wahl Schmied
Die Gründe hierfür sind vielschichtiger Natur. Da ist zunächst die längste historische Periode, in der ein republikanischer Präsident gegen eine wachsende demokratische Mehrheit im Kongreß regieren mußte: von Nixon bis heute, mit Ausnahme der vier Carter-Jahre. Hinzu kommt jetzt noch der innen- wie außenpolitisch bröckelnde Konsens innerhalb der Republikanischen Partei selbst. Bushs Eiertanz bei den verschiedenen Steueralternativen eines Haushaltskompromisses ist dabei nichts anderes als der verzweifelte Versuch, die abbröckelnde Einheit der Republikaner gegen die demokratischen Budgetvorschläge wieder notdürftig zusammenzuflicken.
Lobbyismus statt grass roots
Rapide ansteigende Wahlkampfkosten haben dafür gesorgt, daß die wachsende Unabhängigkeit der Kongreßabgeordneten von ihren Parteien nicht etwa mehr „grassroots“-Demokratie, sondern neue Abhängigkeiten von spendenkräftigen Geschäftsinteressen zur Folge hatte. Bei den geschätzten Kosten für ein gewonnenes Senatsrennen (alle sechs Jahre) von vier Millionen Dollar (sechs Millionen DM) und für einen ergatterten Sitz im Repräsentantenhaus (alle zwei Jahre) von 360.000 Dollar muß jeder Kongreßabgeordnete pro Tag (!) zwischen 2.000 und 4.000 Dollar an Wahlkampfspenden auftreiben, um beim nächsten Mal wieder dabei zu sein. Kein Wunder, daß ihm da die Interessen der sogenannten „Political Action Committees“ (PACs), dem offiziellen Spendenarm der jeweiligen Lobbygruppen, näher sind als die Bedürfnisse seiner WählerInnen. Rund die Hälfte der diesjährigen Wahlkampfkosten von über einer halben Milliarde Dollar werden aus solchen PAC-Spenden finanziert.
Die im letzten Jahr von beiden Parteien groß angekündigte Reform der Wahlkampffinanzierung hat längst wieder das Schicksal vorausgegangener Reformversuche erlitten — und ist in irgendwelchen Kongreßausschüssen hängengeblieben. Daß also ausgerechnet der Kongreß für die Abänderung eines Systems stimmen werden, das ihnen regelmäßig traumhafte Wiederwahlraten von über 95% beschert, ist daher auch in Zukunft kaum zu erwarten.
Selbst der bescheidene Vorschlag, den Wahlkampf zeitlich so zu verlegen, daß die Budgetverhandlungen nicht in jedem zweiten Herbst unter wahltaktischen Gesichtspunkten geführt werden müssen, wird von den Systemträgern nicht ernsthaft in Betracht gezogen.
Politik im 30-Sekunden-Takt
Auch die Dominanz des Fernsehens hat nicht — wie in den 60er Jahren noch erhofft — die Demokratisierung der Wahlkämpfe, sondern die Tyrannei des spendenfinanzierten 30-Sekunden-Commercials gebracht. Statt auf die neu zu definierenden Herausforderungen der innen- und außenpolitischen Situation zu reagieren, leben die Führer der Nation in den USA in permanenter Angst vor dem medialen Tiefschlag des politischen Gegners. Ein falsches Wort zur Verbrechensbekämpfung oder Steuererhöhung, und der Gegenkandidat bringt es in verzerrter Form auf den Bildschirm. Politik wird so zur systematischen Vermeidung kontroverser oder gar negativer Problembeschreibung, bei der ein Gewissen oder gar ein Rückgrat nur hinderlich wäre. Dafür, daß solch falsche Worte nicht mehr fallen, sorgt die angeheuerte Media- Consulting-Firma, die als Teil einer florierenden Politberatungsindustrie ebenfalls nur am Erhalt des Status quo interessiert ist; und nicht etwa an einer öffentlichen Finanzierung von Wahlkampfspots. Auf das Budgetdefizit angewandt führt diese mediale Reduzierung komplexer Sachzusammenhänge im 30-Sekunden-Takt zu simplen Alternativen: Steuererhöhungen, ja oder niemals. Für den kleinen Mann oder die Reichen? Wo sich doch 85% der AmerikanerInnen zur Mittelklasse zählen!
Adressat einer solchen Platitüdenparade, die hierzulande als Wahlkampf durchgeht, ist eine Bevölkerung, der das Wort vom Haushaltsdefizit derzeit noch so fremd ist wie George Bush die arabische Seele. Dem US-Bürger klarzumachen, warum das Haushaltsdefizit nach achtjähriger Reagan-Regie und steuerfreiem Pumpparadies USA ausgerechnet jetzt untragbar geworden sein soll, erfordert ein politisches Umerziehungsprogramm, zu dem sich bisher keine der politischen Institutionen fähig erwiesen hat. Allein eine realistische Beschreibung des Haushaltsdefizits in all seinen drohenden Dimensionen (warum es nicht 300, sondern 400 Milliarden Dollar sind; und warum auch dieser Zahl ein unrealistischer Zweckoptimismus zugrunde liegt) — all dies würde jeden 30-Sekunden-Werbefilm sprengen.
Nein, einen erzieherischen Wert hatte das Haushaltsspektakel wirklich nicht, es sei denn, man interpretiert es als eine Anleitung zum Zynismus. Wie sich Bush-Administration und ein von den Demokraten beherrschter Kongreß nach neunmonatigen Haushaltsberatungen über die Reduzierung eines offiziell 300 Milliarden hohen Haushaltsloches auf eine marginale Mehrbesteuerung von Millionären einigten, hatte mehr Ähnlichkeiten mit einem Ionesco- Drama. Die voraussichtlichen Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen machen rund 0,7 des US-Bruttosozialproduktes aus — „Peanuts“ und nicht etwa Eingemachtes.
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