: Die Toten unter Chiles Wüstensand
Mit dem Antritt des ersten demokratisch gewählten Präsidenten nach 16 Jahren Militärdiktatur hoffen Angehörige der Ermordeten und Verwundeten auf Aufklärung / Doch noch tauchen die Opfer der Diktatur nur zufällig im nordchilenischen Wüstensand auf ■ Aus Pisagua Dirk Asendorpf
„Sechs Leichen in der Wüste entdeckt!“ - Nachrichten dieser Art sind für Nelson Munos, Straf- und Landrichter in dem kleinen nordchilenischen Städtchen Pozo Almonte, fast schon alltäglich geworden. Schließlich erstreckt sich sein Zuständigkeitsbereich über ein Gebiet von der Größe Hessens, in dem Tausende von Arbeitern beerdigt sind, die hier am Anfang des Jahrhunderts während des Salpeterbooms ihr Leben ließen. Immer wieder legt der Wind die vergessenen Friedhöfe frei und bringt Tote zum Vorschein, die aussehen als wären sie erst kürzlich zu Grabe getragen worden.
Wenn Richter Nelson Munos von solchen Leichenfunden erfährt, dann interessiert ihn zunächst nur eine Frage: Wann ist der Tod eingetreten, vor 1973 oder danach? Im zweiten Fall nämlich handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Opfer von Gewaltverbrechen im Namen der Militärdiktatur Pinochet. „Sechs Leichen in der Wüste entdeckt!“ - Für den Richter könnte das Aufklärung über das Schicksal von sechs gefolterten und verschwundenen ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Pisagua bedeuten.
150 Kilometer Wüstenpiste sind es von Pozo Almonte nach Pisagna. 100 Kilometer von der nächsten Oase entfernt liegt der kleine Fischerort in einer weiten Bucht. Diese wird landeinwärts durch einen Steilhang begrenzt, der die ockerfarbene Wüste von der Bucht scheidet. Damit ist Pisagua leicht zu bewachen - ein „natürliches Gefängnis“. Schon in den vierziger Jahren diente Pisagua als Verbannungsort für Führer der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft. Als junger Kommandant sammelte hier selbst Augusto Pinochet Erfahrung im Umgang mit den revolutionären Kräften seines Landes. 30 Jahre später muß er sich daran erinnert haben, als er in Pisagua das Konzentrationslager für Nordchile errichten ließ. Doch während sich die Verbannten früher in den Grenzen des „natürlichen Gefängnisses“ frei bewegen konnten, wurden die willkürlich Verhafteten im Herbst 1973 zu vierzigst in Zellen für sechs Gefangene gepfercht.
„Wir konnten nicht einmal alle gleichzeitig auf dem Boden liegen. Einige mußten stehen, andere sitzen, damit ein paar von uns schlafen konnten“, erinnert sich Vladislav Kumicio, der nach Pisagua geschickt worden war, weil er eine Fortbildungsveranstaltung für Sportmediziner in Kuba besucht hatte. Immer wieder wurden die Gefangenen zu simulierten Erschießungen geführt (vgl. Kasten), und manchmal war es dann doch tödlicher Ernst. 1974 bezeichnete das Rote Kreuz Pisagua als das gewalttätigste Lager Chiles, und das, obwohl die internationalen Beauftragten der Organisation das Lager nur zweimal, nach Voranmeldung, besichtigen durften. Besonders berüchtigt war der Kommandant des Lagers Pisagua, ein deutscher Nazi namens Carlos Forestier Hansen.
Zwei Jahre blieb das Konzentrationslager Pisagua bestehen. Viele der Gefangenen haben es nicht lebend verlassen. Doch erst in den letzten Jahren, nach der Aufhebung des Ausnahmerechts 1986, begannen Angehörige der Erschossenen und Verschwundenen mit der Erstattung der ersten Strafanzeigen, denn seither haben sie die Hoffnung, daß eine Anzeige zur Aufklärung des Todes ihrer Angehörigen beitragen könnte.
So erschienen zum Beispiel am 20. November 1987 die beiden Töchter von Julio Cabezas vor dem Richter in Pozo Almonte, um Anzeige gegen die Militärs zu erstatten, die ihren Vater am 11.Oktober 1973 im Lager Pisagua hingerichtet hatten. Julio Cabezas war Staatsanwalt in der Provinzhauptstadt Iquique und hatte 1973 gegen einige Honorationen der Stadt wegen Schmuggel ermitteln lassen. Politisch war er nie aktiv. Und als sein Haftbefehl am 14. September 1973, drei Tage nach Pinochets Putsch und dem Tod Allendes, in der Lokalzeitung veröffentlicht wurde, stellte er sich freiwillig, da er glaubte, die Gründe für den Haftbefehl schnell widerlegen zu können. Einen knappen Monat später, am 11.Oktober 1973, meldet das Radio seine Hinrichtung aufgrund eines Militärgerichtsurteils in Pisagua. Auf dem Totenschein steht als Todesursache: „Verletzung durch Kugel im Bauch.“ Der Leichnam ist verschollen, in keinem Friedhofsverzeichnis ist der Name des ehemaligen Staatsanwalts enthalten.
15 Jahre später beginnt das Strafgericht in Pozo Almonte mit den Ermittlungen. Das Justizministerium wird gebeten herauszufinden, ob Julio Cabezas im Sommer 1973 tatsächlich in Iquique wegen Schmuggel ermittelt hat, und falls ja, gegen wen. Antwort des Ministeriums am 31. August 1988: „Im Februar 1985 wurden das entsprechende Archiv und alle Querverweise vernichtet, weswegen es uns leider nicht möglich ist, Ihnen einen entsprechenden Hinweis zukommen zu lassen.“
Richter Nelson Munos kann es kaum glauben. Er beantragt die Vernehmung des Lagerkommandanten von Pisagua, Carlos Forestier Hansen. Antwort des Militärgerichts in Santiago vom 23.November 1988: „General Forestier gehört als General der Reserve nicht zu den Personen, die nach Artikel 191 vor einem Zivilgericht aussagen müssen. Zuständig sind alleine die Militärgerichte.“
Die Nachforschungen des Wüstenrichters sprechen sich herum. Mit Datum vom 24.Januar 1989 droht das Militärgericht in Arica, den Obersten Gerichtshof anzurufen, falls der Strafrichter von Pozo Almonte den Fall des hingerichteten Staatsanwaltes nicht freiwillig an die Militärjustiz weiterleitet. Statt des amtsüblichen „dios guarde a US“ (Gott beschütze Sie) endet der Brief mit „Salud a US“ (Gute Gesundheit) - eine deutliche Warnung.
Doch der Strafrichter von Pozo Almonte bleibt stur. Schließlich hat er ja gerade erst mit den Ermittlungen begonnen, und das auch noch relativ erfolglos. Wie soll er da schon wissen, ob womöglich ein anderes Gericht, zum Beispiel das Militärgericht in Arica zuständig ist. In einer langen juristischen Begründung legt er dem Obersten Gerichtshof in Santiago seine Auffassung dar. Die Entscheidung ist dagegen um so kürzer. Sie kommt bereits am 4. Juli 1989 und besteht aus einem einzigen Satz: „Zuständig für alle weiteren Ermittlungen im Fall Julio Cabezas ist das Militärgericht in Arica.“ Begründung: keine.
Als Richter Munos im August in Urlaub geht, werden die Akten des Falles im Gericht von Pozo Almonte von Militärs abgeholt. Außerdem durchsuchen zwei Mitarbeiter des inzwischen aufgelösten Geheimdienstes CNI die Privatwohnung des Richters und lassen Kopien der Unterlagen mitgehen. So bereitete sich das Militär Pinochets auf den Übergang zur Demokratie vor.
Im Sommer 1989 sind dem Strafrichter Pozo Almonte auf ähnliche Weise die Akten acht weiterer Fälle von Hingerichteten oder verschwundenen Häftlingen des Konzentrationslagers Pisagua verloren gegangen. In einem anderen Fall blieb jedoch eine Spur zu den Tätern:
Juan Manriquez war Fischer in Iquique und öffentlich aufgefallen, weil er sich für den Aufbau einer Gewerkschaft der kleinen Fischer einsetzte. Am 2.November 1973 wurde er unter dem Vorwand des Rauschgifthandels festgenommen, am 18.Dezember 1973 aus der Polizeihaft in Iquique ins Lager Pisagua verlegt. Am 31.Januar 1974 berichtete die Lokalzeitung von seiner Freilassung, doch Juan Manriquez tauchte nie wieder auf. Auf eine Vermißtenanzeige der Ehefrau hin präsentierte die Polizei eine von dem Fischer unterzeichnete Entlassungsurkunde, datiert vom 14.Januar 1974. „Wenn sich Ihr Ehemann seitdem nicht gemeldet hat, so ist das sein eigenes Verschulden“, antwortete die Polizei; womöglich habe er sich ins Ausland abgesetzt, „um einer erneuten Verhaftung zu entgehen.“
Doch Juan Manriquez war nicht im Ausland. Im März 1981 berichtete die Lokalzeitung in einer kleinen Notiz von erneuten Leichenfunden in der Wüste zwischen Pozo Almonte und Pisagua. Die Ehefrau des Fischers und ihre beiden Töchter machten sich auf den Weg und erkannten einen der Toten als ihren Mann und Vater. Das Hemd der Marke „Poligal“ und das Jacket darüber gehörten eindeutig Juan Manriquez. Ein verheilter Knochenbruch stimmt zudem exakt mit einer Verletzung überein, die sich der Fischer einmal zugezogen hatte und die mit ärztlichem Attest belegt war. Doch als die Witwe die Leiche am nächsten Tag erneut bei der Polizei identifizieren sollte, war der Tote verschwunden. Bis heute gilt Juan Manriquez offiziell als lebend und seine Witwe hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente.
Nachdem sie wußte, daß ihr Mann nicht mehr lebte, ging die Witwe Monica Manriquez daran, seinen Nachlaß zu ordnen. Zu seinem Besitz gehörte auch ein kleines Haus in Santiago. Als sie es verkaufen wollte, mußte sie feststellen, daß es bereits verkauft war, und zwar am 6.November 1973, vier Tage nach der Verhaftung ihres Mannes Juan Manriquez. Mit seiner Unterschrift bestätigte der Notar Alvaro Bianchi, einer der bestverdienenden Notare Santiagos mit guten Beziehungen zur Militärregierung, damals die Anwesenheit des in Iquiqua verhafteten Fischers beim Verkauf seines Hauses in der 2.000 Kilometer entfernten Hauptstadt.
Eine Anwältin aus Santiago soll nun im Auftrag der Witwe herausfinden, in welchem Verhältnis die „Käuferin“ des Hauses, Silvia Carmona Zalfate, zu den möglichen Mördern des im Gefängnis enteigneten Fischers Juan Manriquez steht. Keine leichte Aufgabe, aber immerhin stehen der Anwältin noch die Gerichtsakten zur Verfügung, die in den anderen Fällen vom Geheimdienst in Pozo Almonte beschlagnahmt worden sind. „Wir hoffen jetzt auf den 15.März“, sagt die Anwältin Georgina Leiro und meint damit den Amtsantritt der ersten demokratisch gewählten Regierung nach 16 Jahren Militärdiktatur in Chile. Denn die hat versprochen, als eine ihrer ersten Amtshandlungen den Militärgerichten die Zuständigkeit für alle Strafverfahren wegen Folterungen, Erschießungen und Entführungen unter Pinochet zu entziehen und an die zivile Gerichtsbarkeit zu übergeben.
Doch viele Spuren sind inzwischen verwischt. Dem Fischerörtchen Pisagua ist der Schrecken des Konzentrationslagers nicht mehr anzumerken. Zwar wurde das Gefängnis 1984 noch einmal für kurze Zeit benutzt, um Hunderte von Jugendlichen einzusperren, die bei den beginnenden Demonstrationen in der Hauptstadt festgenommen worden waren. Aber heute ist davon nichts mehr zu sehen. Friedlich schaukeln kleine Fischerbote auf den Wellen, die 150 Bewohner des Örtchens hängen ihre Wäsche über die einzige staubige Straße oder sitzen auf den Stufen der einzigen Kneipe. Ein pompöses Barocktheater, auf dessen Bühne einst Caruso und Marlene Dietrich standen, erinnert an die großen Tage des Salpeterhandels.
Doch an das brutale Konzentrationslager Chiles erinnert in Pisagua heute nichts mehr, keine Gedenktafel, kein Schild, kein Wort darüber. Nur der Wind klappert mit den Fensterläden des verlassenen Knastgebäudes. Im Sommer letzten Jahres ist es für 18.000 Mark an einen Geschäftsmann in Arica verkauft worden. Er will es zu einem Hotel umbauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen