Die These: Weihnachten ist schöner allein
Das erste Coronaweihnachten könnte ganz anders werden als gewohnt. Das muss kein Drama sein, findet unsere Autorin.
Das erste stressfreie Weihnachten im Erwachsenenleben könnte bevorstehen, Corona sei Dank. Der vielversprechende Impfstoff wird bis Ende Dezember – wenn überhaupt – dann sicher nicht der breiten Masse zur Verfügung stehen. Also wird auch die Weihnachtszeit eine kontaktarme Zeit. Keine Pflichtbesuche bei der Verwandtschaft, keine gehetzt-genervten Fahrten durch die halbe Republik, keine wochenlangen Auseinandersetzungen über das perfekte Menü.
Stattdessen: geschenkte, entspannte Zeit. Denn jeder Zehnte fühlt sich laut einer Forsa-Umfrage schon gestresst, wenn er nur an die Weihnachtsvorbereitungen denkt. Mehr als jeder Fünfte findet das Fest an sich stressig. Ziemlich viel Belastung für eine Tradition, hinter deren Ursprung immer weniger Menschen stehen.
Die Kirchen melden seit Jahren Mitgliederschwund, Pfarrgemeinden werden zusammengelegt, weil kaum noch wer den Gottesdienst besucht. Da ist es doch immer wieder erstaunlich, welche Kraft Weihnachten trotzdem hat. Die Kanzlerin beschwört uns, den Teillockdown-November durchzuhalten, um dann Weihnachten feiern zu dürfen. Das christliche Fest – noch nicht einmal der höchste Feiertag dieser Religion – ist zum Druckmittel für die ganze Nation geworden.
Dabei ist es gar kein Drama, Weihnachten allein zu verbringen. „Aschenbrödel“ läuft auch ohne Familienbesuch von früh bis spät im Fernsehen. Würstchen mit Kartoffelsalat – immer noch eines der beliebtesten Weihnachtsessen in Deutschland – kann man auch ganz leicht für eine Person machen. Und wer ein schlechtes Gewissen hat, die Eltern oder andere Verwandte in dieser Zeit allein zu lassen, sollte sich mal grundsätzlich Gedanken über die Beziehung machen. Eltern- und Großelternbesuche gehen schließlich auch im Sommerjahresurlaub, dann sogar länger.
Laut der Forsa-Weihnachtsumfrage ziehen viele Menschen Energie daraus, dass die Familie über die Feiertage zusammenkommt. Das ist schön – und das Zusammenkommen muss ja auch gar nicht ausbleiben. Nur eben nicht zur pandemiemäßig ungünstigsten Zeit im Winter, mit schniefenden Nasen in stickigen Innenräumen.
Es gibt Alternativen. Jede Familie könnte sich ihren eigenen Tag im Jahr suchen, einen besonderen oder einen zufälligen, an dem sie sich trifft, Zeit miteinander verbringt, Geschenke austauscht, feiert. Am besten im Sommer, denn draußen feiert es sich in dieser Pandemie sicherer. Die Weihnachtsfeiertage können dann weg, eh schwierig in einem eigentlich säkularen Staat, dafür gibt’s dann zwei Urlaubstage mehr. Familienurlaubstage.
Bis wir so weit sind, können wir zu unserem ersten Coronaweihnachten einfach mal entspannen. Ich verbringe Weihnachten seit Jahren allein, und es sind die stressfreiesten Tage des Jahres. Es ist dann kaum jemand in der Stadt, den man treffen könnte, um mit ihr oder ihm Zeit zu verbringen. Ich kann mich also gar nicht verplanen – und dadurch auch nichts verpassen. In your face, Fomo („Fear of missing out“).
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der Tiefkühler wird vor den Feiertagen ordentlich beladen, Völlerei geht auch allein. Und zum After-Dinner-Wein gibt’s meinen Lieblingsfilm, nicht das, was irgendwer mit mehr Durchsetzungskraft gerade schauen will. Außerdem ist es an den Weihnachtsfeiertagen einfach ruhig auf der Straße, genauso wie das Telefon. Niemand ruft an, niemand schreibt Nachrichten. Und das Beste: Niemand fragt nach Partner:innenwahl, Kinderplanung, Joberfolg.
Wer nicht das Hardcoreprogramm ganz allein fahren will, kann es sich an diesem ersten Pandemieweihnachten auch im Rahmen des Möglichen mit anderen jenseits der Kernfamilie gemütlich machen. Warum nicht mit der WG nebenan – mit Abstand – die Tage verbringen? Mit dem älteren Ehepaar von schräg obendrüber oder dem alleinerziehenden Elternteil mit Kind im ersten Stock?
Statt familiären Verpflichtungen nachzugehen, kann man stattdessen die Menschen einladen, die sonst immer ganz allein und womöglich einsam sind. Für sie könnte das Coronaweihnachten zum Vorteil werden, weil mehr Menschen potenziell verfügbar sind. Kennt man die Menschen aus dem eigenen Haus noch nicht, sind die Feiertage die ideale Gelegenheit, das nachzuholen: Plätzchen backen, klingeln, überreichen. Und dann zum Weihnachtsspaziergang am Nachmittag verabreden, dick eingepackt und mit Sicherheitsabstand.
Andere soziale Kontakte kann es gerade in diesem Jahr auch geben. Wer die Feiertage ohne Familie verbringt, muss keine (Verlegenheits-)Geschenke kaufen, keine Wohnung putzen, kein aufwendiges Menü vorbereiten. Weihnachtsmärkte fallen auch aus. Das entzerrt den ganzen Dezember. Es bleibt mehr Zeit für die kontaktlose Kontaktaufnahme: statt Adventskalender jeden Tag mit den Eltern telefonieren zum Beispiel. Oder mit der Großtante, deren Mann im vergangenen Jahr gestorben ist. Oder mit dem Cousin, dem es gerade nicht so gut geht.
Erst mal ist es ja nur dieses Jahr, in dem wir uns weihnachtsmäßig voraussichtlich umstellen müssen. Ich glaube aber, das Modell wird Schule machen. Die Menschen werden froh sein darüber, sich nicht mit überteuerten Tickets in überfüllte Züge zu setzen, um dann müde und gestresst unter einem Weihnachtsbaum zu sitzen.
Corona bietet uns die Chance, Weihnachten von all den Erwartungen zu befreien, mit denen es besetzt ist. Dann wird es endlich wieder das, was es eigentlich ist: ein Feiertag, an dem gläubige Christen die Geburt ihres Erlösers feiern. Und alle anderen genau das machen, was sie wirklich wollen.
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