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■ Seit 50 Jahren wird Hiroshima von der Welt mißachtetDie Stadt der Aussätzigen

Wäre da nicht die Atombombe gewesen, könnte Hiroshima heute als Symbol des japanischen Wiederaufbaus gelten. „Die Ähnlichkeit mit Los Angeles war nicht nur im ersten Augenblick frappierend“, notierte Günther Anders in sein Hiroshima-Tagebuch. Tatsächlich wurde nirgendwo im Inselreich eine Stadt nach dem Krieg so umsichtig und vorausschauend neu errichtet. Mitten im Stadtzentrum blüht dort das ganze Jahr ein großer, grüner Park, um den alle anderen japanischen Städte Hiroshima beneiden müßten – wäre es eben nicht der Friedenspark, über dessen Mitte am 6. August 1945 die erste Atombombe zündete.

Seitdem ist Hiroshima auf unsichtbare Art und Weise gebrandmarkt. Die Stadtväter können tun, was sie wollen: Je glanzvoller sie ihr Hiroshima von Jahr zu Jahr herausputzen, desto länger wird doch die Liste der Atombombenopfer. Jeden Tag kommen neue hinzu, die plötzlich eine unheimliche Körperschwäche entdecken oder erst heute bereit sind, ihr Schicksal einzugestehen. Die Leiden des Zweiten Weltkriegs haben in Hiroshima kein Ende.

Allzu leichtsinnig wirft der Westen den Japanern vor, sich selbst nur als Opfer des damaligen Krieges zu begreifen. Er tut es mit dem guten Gewissen, daß die Japaner den Krieg im Pazifik begonnen und in Asien die schrecklichsten Kriegsverbrechen verübt haben. Doch er tut es ebenso in Ignoranz gegenüber den unermeßlichen Folgen der Atombombenabwürfe. In Hiroshima sind die Japaner trotz ihrer unbezweifelbaren Kriegsschuld zu Opfern geworden.

Der ermordete schwedische Premierminister Olof Palme war einer der ganz wenigen westlichen Staatschefs, die es wagten, Hiroshima während ihrer Amtszeit zu besuchen. Andere, wie Jimmy Carter und Michail Gorbatschow, kamen erst, als sie den atomaren Druckknopf für immer aus der Hand gelegt hatten. Dabei freut sich Hiroshima über jeden Gast und verlangt von ihm nicht mehr als einen Parkspaziergang. Ist das schon zuviel verlangt von Politikern, die für sich in Anspruch nehmen, die Welt im Atomzeitalter vernünftig zu regieren?

Es trifft wohl immer noch zu, was Jean-Paul Sartre fühlte, als er in den sechziger Jahren Hiroshima besuchte. Der französische Philosoph glaubte dort mit den Atombombenopfern den „Pariah“ seiner Zeit begegnet zu sein. Er selbst behandelte die Betroffenen kaum anders, da er damals mit Vehemenz die Notwendigkeit der atomaren Nachrüstung Chinas verfochten hat.

Die Krankheit, mit der die Aussätzigen Hiroshimas überall auf Abneigung und Unverständnis stoßen, ist freilich nicht ihre neuartige Strahlenkrankheit. Wenn es etwas gibt, wofür sich die Welt in Hiroshima interessiert, dann sind es eben die medizinischen Erkenntnisse, die man den Opfern hier kostenlos abgewinnen kann. Wenige Wochen nach dem 6. August trafen in Hiroshima bereits amerikanische Ärzte und Wissenschaftler ein und haben die Stadt seitdem nicht mehr verlassen. Die zweite Krankheit der Opfer, welche die Ärzte nicht behandeln können, hat einen anderen Namen: „nuclear allergy“ – zu deutsch: Atomallergie, aber das ist nur unzureichend übersetzt. Die Opfer selbst nennen es „higan“, ein Begriff, der aus der buddhistischen Lehre stammt und den letzten, abstrakten Wunsch Buddhas nach der Rettung aller Menschen ausdrückt.

Es handelt sich also um eine diffuse, geistig-religiöse Krankheit, deren bekannte Symptome darin bestehen, daß nach jedem Atomtest einer ausländischen Macht der Bürgermeister von Hiroshima dem verantwortlichen Staatschef einen Protestbrief schreibt und einige Überlebende der Atombombe im Friedenspark von Hiroshima demonstrieren. Kaum ein seriöser westlicher Autor, der in den letzten Jahren die Stadt besuchte, konnte sich ein mitleidiges Schmunzeln verkneifen. „Hiroshima hat die Atmosphäre eines Wallfahrtsortes“, belustigte sich der Holländer Ian Buruma. „Die Ruine (des Atombomben-Gedächtnisdoms) sieht man als ständige Erinnerung an das Böse, das hier vollbracht wurde. Dort werden Zeremonien abgehalten und Papierlampions für die Seelen der Toten auf den Fluß gesetzt.“

Tatsächlich ironisiert Buruma das Trauerfest, das auch in diesem, unverändert wie jedes Jahr, in Hiroshima abgehalten wird. In aller Herrgottsfrühe versammeln sich die Bürger von Hiroshima an diesem Morgen vor den vielen, kleinen Gedenktafeln, die über die Stadt verteilt sind. Jede von ihnen bezeichnet einen Platz des Grauens: „Im Kamiya-Viertel sind die Wartenden stehend in der Schlange gestorben“, notierte der Schriftsteller Tamiki Hara am 7. August 1945. „Soweit ich beobachtet habe, zeigen die Leichen ein weitgehend ähnliches Aussehen: die Köpfe entsetzlich aufgedunsen, die Gesichter völlig verbrannt, Körper und Arme ebenfalls geschwollen und wie verkrampft. Auf den Armen der Brandverletzten wimmelt es von Maden.“

Wie schwer es ist, solche Erlebnisse mitzuteilen und dabei offene Ohren zu finden, hat Tamiki Hara schnell erfahren. Seine Notizen fanden erst 1953 einen Verleger, zwei Jahre nachdem sich ihr Verfasser aufgrund der drohenden Gefahr eines Atombombeneinsatzes im Koreakrieg das Leben genommen hatte.

Fast erstaunlich ist es da, daß einem in Hiroshima noch immer die Überlebenden der Katastrophe begegnen, die auch unter großen Anstrengungen bereit sind, von ihrem Schicksal zu erzählen. Hiroshi Fukohara, der von seinen Angehörigen längst verlassen in einem Altersheim von Hiroshima lebt, hat außer seinen persönlichen Erfahrungen nichts zu berichten. Er war ein einfacher Handwerker, der nach dem 6. August keine Arbeit mehr bekam, weil schon damals die Keloide sein Gesicht entstellten, die ihm heute noch das Sprechen schwer machen. Seine Frau starb früh an den Folgen der Strahlungen, aber irgendwie schaffte es Fukohara, zu überleben. Eigentlich verstehe er von der Politik nichts, er sei nur gegen den Krieg und die Politiker, die ihn verursachen. Ja, auch dieser alte Mann leidet nebenher noch an der Atomallergie. Was die Welt – allen voran ihre Regenten – auch 50 Jahre nach Hiroshima nicht wahrhaben will: In dem Schicksal der Atombombenopfer spiegelt sich das Schicksal der Menschheit, egal, ob wir eines Tages alle zu den Aussätzigen zählen werden oder es gerade noch rechtzeitig zu verhindern wissen.

Georg Blume, Tokio

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