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Die Sorge um die Erde

Nachdenken über die Möglichkeit einer ökologischen Ethik  ■ Von Wilhelm Schmidt

Nicht nur methodische, sondern „jederzeit auch tumultuarisch“ zu denken, war eine Forderung, die Kant einmal erhob. Dieser Forderung stellt sich der in Erlangen lehrende Philosoph Manfred Riedel mit Freude. Die Sammlung seiner Vorträge und Aufsätze legt Zeugnis ab von einem unruhig umherschweifenden Denken. Aber nicht nur diese offene Grundhaltung ist das Interessante an dem neuerschienen Buch, sondern auch die philosophische Position, die darin vertreten wird. Denn gegenüber einem Subjekt, das zu sehr auf sich selbst bezogen ist, betont Riedel die Bedeutung der Beziehung zum Anderen. Er bringt sie zur Geltung, indem er zeigt, wie sie schon im simplen Faktum des Sprechens zum Ausdruck kommt. Das Ich ist für Riedel ein, wie er es etwas umständlich nennt, „akromatisches Phänomen“ (von griech. akroasthai, was soviel bedeutet wie: auf etwas hören und darauf achten). Das heißt, es erscheint erst in der Wechselwirkung des Sprechens und Hörens. Das simple Wort „Ich“ ist ein „bloßes Vorwort zu einem Erfahrungskontext“.

Das bildet für Riedel die Voraussetzung, um sich eingehender um die Frage des Verhältnisses zwischen Ich und Natur zu kümmern und die Frage nach einer ökologischen Ethik zu stellen. Die Ethik, die sich traditionell mit dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen befaßt, ist heute um den Bereich der Ökologie zu erweitern. Denn zugleich mit dem Gewahrwerden der ökologischen Probleme stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur oder zu natürlichen Zusammenhängen. Heißt das, daß es erst einer philosophischen Begründung bedarf, um ökologisch aktiv werden zu können? — Kein Philosoph würde so töricht sein, das zu behaupten. Aber die philosophische Reflexion kann nützlich sein, um die Probleme genauer zu erkennen und die Lösungsversuche gründlicher anzusetzen, statt nur an der Oberfläche der Probleme zu kratzen.

Problematisch ist beispielsweise der Begriff der Natur selbst. Die Natur, so glauben manche, sei das, was noch nicht von Menschenhand berührt worden ist. Manche nostalgischen, romantischen Träume von der Schönheit der Natur werden da wieder wach. Dieselbe Natur, die einst als wild und unberechenbar erfahren wurde, erregt heute nur noch unser Mitleid, und wir fordern ihr die „Schönheit“ ab, die wir auf unseren betonierten Pisten nicht mehr finden. In Wahrheit gibt es noch keinen Quadratmeter unberührter Natur mehr auf dieser Erde, und zwar spätestens seit der Vergiftung der Atmosphäre, die sich über den ganzen Planeten erstreckt.

Wenn Manfred Riedel sich der Aufgabe unterzieht, die ökologische Fragestellung näher zu betrachten, dann wendet er sich zuallererst gegen das scheinheilige Postulat vom „Wert an sich“ der Natur — denn der Gesichtskreis dieses „Wertes“ bleibt völlig anthropozentrisch: Vom Menschen ausgehend und auf ihn bezogen. Auf diese Weise ist die Frage, ob es eine ethische Verpflichtung dafür gibt, die Natur als schützenswert und bewahrenswert zu betrachten, nicht zu beantworten. Auch nicht im Namen unausgewiesener normativer Voraussetzungen, zu denen die Annahme gehört, die Natur sei, wenn sie nur in Ruhe gelassen werde, gekennzeichnet durch eine Balance, eine Stabilität, die sich vollständig selbst reguliere. Denn wie könnte man das außerhalb aller Zusammenhänge stehende Kriterium finden, das solche Schlußfolgerungen erlauben würde? — Es handelt sich dabei eher um Wunschvorstellungen, die auf die Natur projiziert werden. Was die Natur „an sich“ ist, können wir nicht wissen, da sie untrennbar mit der Welt des Menschen verwoben ist und von der Kultur nicht zuverlässig unterschieden werden kann.

Riedel mißtraut auch der Begründung einer Ökoethik in einem erweiterten kategorischen Imperativ, wonach wir nur dasjenige wollen sollen, was im Rahmen der Natur möglich ist — ein Vorschlag, den Reinhart Maurer 1982 („Ökologische Ethik?“ in: 'Allgemeine Zeitschrift für Philosophie‘, 7/1982) gemacht hatte. Es kann heute keine allgemein verbindlichen Sätze der Ethik mehr geben. Statt dessen gibt es ethische Forderungen, in denen es um das konkrete Sichverhalten in einer gegebenen Situation geht. Riedel bezieht diesen ethischen Ansatz sehr stark auf Heidegger, wie überhaupt die meisten der heute vorliegenden Ansätze zu einer ökologischen Ethik offenbar nicht auf den Bezug zu Heidegger verzichten können. Er setzt an bei der Besinnung auf das Vehältnis der sogenannten Natur zum Ethos des Menschen, der „ersten“ zur „zweiten Natur“, die beide „in Bewegung“ sind und keineswegs feststehen. Beide gehören daher auch nicht dem Bereich einer Ersten Philosophie im traditionellen Sinne zu, in der nur vom ewigen Sein und von der unveränderlichen Substanz gehandelt wird. Sie gehören vielmehr einer Zweiten Philosophie zu, oder einem, wie Heidegger es nannte, anderen Anfang der Philosophie. Da wird nicht danach gefragt, was etwas „an sich“ sei, sondern was etwas in Beziehung zu Anderem ist. Der Sinn von Sein liegt in dieser Beziehung.

Daraus ergeben sich Konsequenzen auch für den Begriff der „Natur“. Natur ist demnach nicht einfach von vornherein da, sondern entspringt aus dem Grundverständnis einer gelebten, erfahrbaren und begegnenden Welt. Den Beweis dafür liefert die Geschichte des Begriffs natura, der zu jeder Zeit mit einem andern Inhalt versehen war. Daran wird deutlich, daß die Natur kein ontisches, sondern ein ontologisches Problem darstellt; daß sie nicht „an sich“ existiert, wie immer angenommen wird, sondern in einer genauen Beziehung zu dem Verständnis steht, das man von ihr hat, abhängig von den Entdeckungen, die man in ihr macht. Sie ist eine veränderliche Größe, die niemals völlig bekannt sein kann, weil wir sie immer auf andere Weise verstehen. Schließlich erscheint sie als „Umwelt“ in jenem modernen Umgang mit ihr, der nurmehr technisch vermittelt ist. Der trügerische Begriff täuscht darüber hinweg, daß es in Wahrheit nicht um die „Umwelt“, sondern um die Welt des Menschen geht. Die Natur ist nicht einfach nur „vorhanden“, sondern wird im täglichen Umgang und Gebrauch erfahren. Sie ist nicht ein passiver Gegenstand theoretischer Erkenntnis, sondern ein offener Raum der Möglichkeit, der in der Praxis ständig neu erschlossen werden muß. Das Sein der Natur endgültig zu bestimmen, bleibt daher ein nutzloses Unterfangen. Simpel von „der Natur“ zu sprechen heißt, ihr einen Dingcharakter zuzuweisen, der fatale Konsequenzen haben kann.

Bei dem Bereich, den man Natur nennt, handelt es sich um das, was vom Menschen gebraucht wird, im doppelten Sinne des Wortes: Sie ist das, womit er arbeitet, und das, was er zum Leben nötig hat. Der Fehler des Menschen besteht darin, diesen Bereich, den er braucht, zu verbrauchen, zu konsumieren, ohne ihn wiederherzustellen. Für Heidegger konnte die Ethik daher nur in der Verhaltenheit zu finden sein, die für ihn das Wesen des Ethos ausmachte. Verhaltenheit, um den Planeten, auf dem wir leben, nicht als ein beliebig ausbeutbares Objekt zu verstehen, sondern als einen Teil unserer selbst und als unhintergehbare Grundlage all unseres Wissens und Könnens. Es geht dabei um einen anderen, dem Menschen möglichen Aufenthalt auf der Erde, der ein verändertes Verhalten begründen würde. Dies zu verfehlen hieße, daß wir hier nichts zu suchen haben. Die Natur rein rechnerisch zu betrachten, prophezeite Heidegger, werde in ihre Zerstörung umschlagen. Bei der ökologischen Ethik, die nottut, geht es nicht auf der einen Seite um ein theoretisches Durchdenken der Probleme, auf der anderen Seite um ein praktisches Verhalten, sondern um ein Ineinanderwirken von Reflexion und Praxis.

Soweit der Grundsatz. Aber was ergibt sich für eine Ethik konkret daraus? — Das eben ist das Problem, auf das auch Riedel nicht antwortet. Es ist gewiß schön, mit Heidegger zu sagen, auf die Erde gründe der Mensch sein Wohnen in der Welt. Aber wenn wir, was sicher zutreffend ist, nicht mehr naiv von „der Natur“ sprechen können, dann stellt sich die Frage der Ethik mit nur umso größerer Schärfe — da wir nämlich nicht bestimmte „natürliche“ Verhältnisse voraussetzen können, die wiederherzustellen wären, sondern die Wahl treffen müssen, inwieweit wir in bestehende Verhältnisse eingreifen und inwieweit nicht. Einen anderen Maßstab als den, uns nicht selbst ruinieren zu wollen, haben wir dafür nicht.

Manfred Riedel: Hören auf die Sprache · Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Suhrkamp Verlag, 440 S., 48 DM

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