INTERVIEW: „Die Sicherheit Europas ist nicht nur von militärischen Elementen bestimmt“
■ Jiri Dienstbier, ehemals Sprecher der Bürgerbewegung „Charta 77“ und heutiger Außenminister der CSFR, über die Aussichten eines neuen europäischen Sicherheitssystems
taz: Im Frühjahr des letzten Jahres entwickelten Sie als Außenminister den Plan eines neuen europäischen Sicherheitssystems jenseits der bestehenden Militärblöcke. Zu Beginn dieses Jahres begann dann eine eindeutige Annäherung an die Nato. Was waren die Gründe für diesen Einstellungswandel?
Jiri Dienstbier: Als ein Land in der Mitte Europas sind wir besonders an den Sicherheitsstrukturen ganz Europas interessiert. Schon im 15. Jahrhundert war es der tschechische König Jiri z Podebrad, der als erster ein kollektives Sicherheitssystem vorschlug. Wir müssen nicht nur daran interessiert sein, selbst gute Beziehungen zu unseren Nachbarn zu unterhalten. Genausowichtig ist uns, daß diese Nachbarn sich untereinander vertragen. Beginnen sie einen Krieg, so werden ihre Truppen durch unser Territorium marschieren. Wir wußten, daß wir nicht im Warschauer Pakt bleiben können, aber auch das Vakuum, in dem wir uns nun befinden, ist längerfristig keine Lösung. Am Anfang wurden unsere Vorschläge nicht verstanden, man sagte, sie wären zu idealistisch. Aber bereits ein halbes Jahr später wurde die Pariser Charta der KSZE unterzeichnet, entstand in Prag das dauerhafte Sekretariat der KSZE, in Wien ein Konfliktlösungszentrum. Das heißt, an der Institutionalisierung des KZSE-Prozesses wird gearbeitet, es entsteht ein Netzwerk. Unser Vorschlag enthielt von Anfang an die Grundelemente: Wir bestanden darauf, daß die Sowjetunion nicht isoliert wird, die Länder Osteuropas so schnell wie möglich in die europäischen Institutionen eingebunden werden und neue Institutionen und ein Mechanismus für Notfälle entwickelt werden. Wir brauchen auch die transatlantische Dimension. Nur die Nato und die KSZE beziehen die USA mit ein. Wir müssen die bestehenden Strukturen ausnutzen. Und die Nato ist die einzige funktionierende Sicherheitsorganisation in der Welt. Sie ist durch die Befreiung Kuwaits weiter gestärkt worden. Im Golfkrieg hat sich das Netzwerk der Nato als sehr nützlich erwiesen. Die Sicherheit Europas ist jedoch nicht nur von militärischen Elementen bestimmt, wichtig ist der Aufbau der Demokratie in Osteuropa. Um diesen Prozeß zu stärken, müssen wir Teil der bisher nur westeuropäischen Organisationen werden.
Natürlich gab es diese Diskussion über den direkten Nato-Beitritt. Aber zunächst muß man deutlich sagen: dies erfordert die Zustimmung beider Seiten. Und es wäre doch lächerlich, etwas zu fordern, was nicht möglich ist. Ich will jedoch nicht ausschließen, daß wir, falls sich die Situation verschlechtert — was ich im Augenblick nicht erwarte — die volle Mitgliedschaft in der Nato beantragen. Man muß auf alles vorbereitet sein. Jetzt jedoch ziehen wir ein Sicherheitssystem im Rahmen des KSZE-Prozesses vor. Und hier wird die Nato weiter eine wichtige Rolle spielen.
Die Atomwaffen der Nato sind nun zwar nicht mehr auf ostmitteleuropäische Städte, jedoch weiterhin auf Ziele in der Sowjetunion gerichtet. Halten Sie dies für notwendig?
Nun, ich kenne die strategische Konzeption des sowjetischen Generalstabs nicht, ich weiß nicht, was die da planen. Ich denke, die Verteidigungskonzeption hinkt immer etwas hinter der realen Entwicklung her. In der Pariser Charta haben wir proklamiert, daß es in Europa keine verfeindeten Staaten mehr gibt.
Hat die CSFR ein Verteidigungskonzept?
Ja, das Parlament hat vor einigen Monaten ein Verteidigungskonzept angenommen. Wir wollen eine kleine, aber effektive Armee, die in der Lage sein muß, uns im Fall eines Angriffs zu verteidigen. Wir rüsten sie jedoch nicht für einen Angriffskrieg aus. Aber wir können uns erst sicher fühlen, wenn die Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten dem deutsch-französischen Verhältnis entsprechen. Das halten wir nicht für unmöglich. Schließlich konnte auch die jahrhundertelange Feinschaft zwischen Deutschland und Frankreich überwunden werden.
Diese Hoffnung wird verstärkt durch die derzeitige Entwicklung in der Sowjetunion, ich meine in erster Linie die russischen Präsidentschaftswahlen. Obwohl die Versorgungssituation in Leningrad und Moskau in den letzten Monaten so schlecht war, hat die Bevölkerung für den demokratischen Kandidaten und nicht für die Demagogen gestimmt. Schließlich haben Gorbatschow und Jelzin jetzt einen Kompromiß geschlossen. Sie wissen, daß sie sich nicht gegenseitig bekämpfen können. Selbst die Republiken, die für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, überschreiten bestimmte Linien nicht. Man weiß dort sehr genau, daß es nur den Verhandlungsweg gibt. Ein Bürgerkrieg würde die langjährigen Hoffnungen aller Demokraten zunichte machen und zum Kollaps des Landes führen.
Gibt es Vorstellungen für die Integration der Sowjetunion in ein europäisches Sicherheitssystem?
Ich glaube, die Sowjetunion selbst hat bereits deutliche Voraussetzungen für ihre Integration geschaffen. Sie akzeptierte den Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Waffen in Europa. Als zweiter Punkt kann der Rückzug der sowjetischen Truppen aus der Tschechoslowakei angeführt werden. Das sind Taten, keine Propaganda, kein bloßes Gerede über Perestroika. Wir alle müssen uns bemühen, daß in der Sowjetunion nicht die konservativen Kräfte die Oberhand bekommen. Daß man diese Leute nicht provozieren darf, hat auch die Nato verstanden. Ungarn wurde zum Beispiel nicht in die Nato aufgenommen.
Was sind Ihre konkreten Vorschläge für das künftige Sicherheitssystem? Wie soll beispielsweise reagiert werden, wenn es zwischen den Republiken Jugoslawiens zu einem bewaffneten Konflikt kommt?
Sie denken zu sehr in Katastrophenszenarios. Ich glaube nicht an bewaffnete Auseinandersetzungen dieser Art. Der Druck der westeuropäischen Staaten, zu friedlichen Lösungen zu gelangen, ist sehr stark. Es kommt darauf an, die Gesellschaften der verschiedenen Länder zu stabilisieren. Wenn die zusammenbrechen und es auf staatlicher Ebene zur „Balkanisierung“ kommt, wird das dem Westen hundertmal mehr kosten, als wenn er jetzt in eine sichere gesellschaftliche Entwicklung investiert.
Wie stehen Sie zur Frage der Anerkennung der Sowjetrepubliken, die sich für die volle Unabhängigkeit entschieden haben?
Wir wollen mit diesen Republiken, zum Beispiel den baltischen, vielfältige und enge Beziehungen — aber sie müssen produktiv sein. Wenn die baltischen Staaten bei uns Botschaften eröffnen, die Sowjetunion aber die Pässe der Balten nicht anerkennt, sind solche Vertretungen nutzlos. Ich habe den Eindruck, daß es im Baltikum nur wenig Leute gibt, die auf der unmittelbaren Aufnahme diplomatischer Beziehungen bestehen. Viel wichtiger ist, daß enge, tagtäglich funktionierende Verbindungen geknüpft werden. In Kopenhagen wurde eine ökonomische Hochschule für die Balten errichtet — das war eine Tat.
Wie beurteilen Sie die Haltung der EG, nach der die jugoslawische Föderation auf alle Fälle aufrechterhalten werden sollte — unabhängig von den Wünschen einzelner Republiken?
(lacht) Ihre Frage läßt sich auch leicht auf das Verhältnis der Slowaken zu unserer Föderation beziehen. Wir haben hier eine klare Position: Wir leben in einer Epoche der Integration, nicht der Desintegration. Die Geschichte hat uns im Übermaß darüber belehrt, daß der ethnisch oder ideologisch fundierte Nationalstaat die Menschenrechte ebensowenig garantieren kann wie eine moderne Entwicklung. Nur die Idee der Menschenrechte und der „Citizenship“ können heute die Basis des Staates sein. Auf Jugoslawien bezogen: Es gibt doch nicht nur religiös-kulturelle und politische Unterschiede, es gibt auch ein starkes ökonomisches Gefälle. Daraus folgt die Notwendigkeit der Solidarität zwischen den verschiedenen Republiken. Ich glaube, die europäische Entwicklung folgt zwei großen Linien: der supranationalen Vereinigung und der intensiven regionalen Zusammenarbeit. Wenn Teile einer Föderation friedlich auseinandergehen, ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn aber, wie im Fall Jugoslawiens, Grenzen in Frage gestellt werden, ist dies ein für ganz Europa gefährlicher Präzendenzfall. Interview: Sabine Herre und Christian Semler
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