: „Die Schule ist eine Insel“
Bernd Böttig
Er ist Lehrer geworden, weil seine eigenen ihn wie den letzten Dreck behandelt haben. Als er nach dem Studium aus dem beschaulichen Baden-Württemberg nach Berlin kam, wusste er nicht, dass ihn hier echte Probleme erwarten. In Kreuzberg wurde ihm aber schnell klar: Wenn sich die Situation nicht ändert, halte ich das nicht lange aus! Mit anderen jungen engagierten Kollegen entwarf Bernd Böttig ein neues Schulkonzept. Heute leitet der 55-Jährige die Eberhard-Klein-Oberschule in der Skalitzer Straße. Dort vollendet sich eine Entwicklung, die für viele Pädagogen ein Albtraum ist: In Böttigs Hauptschule gibt es ab heute keinen einzigen Schüler mit deutscher Muttersprache mehr. Das ist selbst in Berlin einmalig
Interview SABINE AM ORDE
taz: Herr Böttig, Ihre Arbeit ist für viele Pädagogen eine Schreckensvision. Sie leiten eine Hauptschule, in der es ab heute einen 100-prozentigen Migrantenanteil gibt.
Bernd Böttig: Das Problem sind nicht die Schüler. Das Problem ist, dass die Schüler kaum eine Chance haben, die deutsche Sprache so zu lernen, wie sie sie eigentlich können müssten.
Ist das nicht deprimierend? Sie sind für 350 Schüler verantwortlich, arbeiten mit vielen vier Jahre lang und wissen von vornherein: Die meisten von ihnen haben keine Chance.
Was nützt es meinen Schülern, wenn ich deprimiert bin? Wir sind integrierte Haupt- und Realschule und außerdem Ganztagsschule, das heißt, wir haben auch Sozialpädagogen, die sich um die Kinder kümmern. Deshalb haben die Kinder hier mehr Chancen als an einer ganz typischen Hauptschule. Von den Schülern, die wir in Klasse 7 aufnehmen, behalten wir 80 Prozent bis Klasse 10.
Das heißt, 80 Prozent machen mindestens den Hauptschulabschluss?
Genau. Das ist ein recht hoher Anteil.
Damit kann man heute aber auch nicht mehr viel anfangen.
Das stimmt, aber dafür sind wir nicht verantwortlich. Wir können ja keine Lehrstellen schaffen. Das ist ein gesellschaftliches Problem.
Kann Ihre Frau das noch hören?
Wenn ich zu Hause bin, dann rede ich über Schule nicht mehr. Ich brauche einen Ort, wo ich Ruhe vor der Schule habe, wo ich mich entspannen kann von dem ganzen Elend.
Wann hatten Sie Ihr letztes Erfolgserlebnis?
Kurz vor den Ferien. Vor acht Jahren kam ein Mädchen zu uns, das mehrfachbehindert war, gefüttert werden musste und sehr viel Hilfestellung brauchte. Wir hatten erst Bedenken, weil unsere Schüler ja nicht die zahmsten sind, aber wir haben sie genommen. Kurz vor den Ferien war sie hier, um uns zu erzählen, dass sie ihr Abitur bestanden hat.
Und das Gegenteil? Was war das schlimmste Erlebnis?
Das war im Jahr 95, das weiß ich noch genau. In der Mittagspause meinten einige Schüler in Prenzlauer Berg etwas regeln zu müssen. Die haben sich hier zusammengerottet und sich auf die Suche nach einem Schüler gemacht. Weil sie den nicht gefunden haben, haben sie einen anderen, der mit der ganzen Vorgeschichte nichts zu tun hatte, aber auch deutsch aussah, mit 20 Messerstichen niedergestochen. Die Schule wurde von der Polizei umstellt und die Schüler wurden aus den Klassen geholt.
Ein extremer Fall. Harmlos geht es hier im Alltag aber auch nicht zu.
Wenn ich das mit meiner Schulzeit vergleiche, ich bin auf dem Land am Niederrhein aufgewachsen, dann geht es hier weniger brutal zu.
Haben Sie sich damals auch gegenseitig bespuckt und geschlagen, sind auch Stühle im Unterricht geflogen?
Stühle fliegen hier auch nicht.
Hört man aber aus dem Kollegium.
Das muss dann eine totale Ausnahme gewesen sein. Es gibt natürlich Konflikte, auch aus ethnischen oder religiösen Gründen. Manchmal gibt es in einer Klasse eine Gruppe Mädchen, die das Kopftuch tragen, die versuchen andere muslimische Mädchen, die keines tragen, unter Druck zu setzen und so weiter. Aber solche Konflikte sind normal. Die gibt es, in anderer Art, auch unter deutschen Schülern. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Wir haben vor einiger Zeit an einem Projekt der Philharmonie mit Sir Simon Rattle teilgenommen. Da war auch eine Schule aus Weißensee dabei, und meine Kollegen waren entsetzt, wie diese Schüler mit ihren Lehrern umgegangen sind.
Andere Schulleiter kämpfen um deutsche Schüler, warum Sie nicht?
Sie kennen ja Don Quichotte mit den Windmühlen: Das macht einfach keinen Sinn. Wenn sie nur noch ganz wenige Deutsche haben, wissen sie nicht mehr, wen sie wohin integrieren sollen. Bei uns waren es im letzten Schuljahr gerade noch vier, die haben sich absolut unwohl gefühlt. Die sind ausgegrenzt, verstehen die Sprache auf dem Schulhof nicht. Wenn jemand hier anruft und ich den Eindruck habe, es geht um ein deutsches Kind, dann rate ich ab.
Was führte schlussendlich zum Kippen der Situation?
Als vor ungefähr acht oder zehn Jahren das Schulgesetz geändert wurde, wurden viele Vorteile, die die ausländischen Schüler hatten, gestrichen. Früher durfte ich außerdem nur gemischte Klassen aufmachen, wenn die Hälfte der Kinder deutsch war. Das wurde gekippt. Danach musste ich jeden Schüler nehmen, der sich hier angemeldet hat. Der Anteil der deutschen Schüler wurde immer geringer. Das geht dann so los: Am ersten Schultag bekommen die Eltern mit, wie die Klassen zusammengestellt werden, und stehen danach in meinem Büro, um ihr Kind abzumelden. Das gilt auch für die bildungsbewussten türkischen Eltern.
Sie haben meist zwei rein türkische Klassen und zwei gemischte Klassen, in denen neben Türken auch sehr viele Schüler arabischer Abstammung sind, aus dem ehemaligen Jugoslawien und und und. Die Schüler haben zum Teil sehr schlechte Deutschkenntnisse. Kann man da überhaupt vernünftigen Fachunterricht machen?
Komplizierte Sätze verstehen sie nicht. Man muss vieles erklären. Aber sie verstehen uns schon so weit, dass man ihnen etwas begreiflich machen kann. Natürlich muss der Unterricht anders aussehen. Mit Frontalunterricht kommt man nicht weiter. Wir haben kleine Gruppen, die Schüler sollen möglichst viel selber machen. Die Lehrer arbeiten mit individuell erstellten Arbeitspapieren, weil unsere Schüler ein normales Geschichts- oder Mathebuch nicht verstehen würden, einfach vom Text her. Diese Probleme gibt es aber auch in Hauptschulen in Marzahn oder Treptow. Das ist die Struktur in Berlin, wo nur 8 Prozent der Schüler eines Jahrgangs Hauptschüler sind.
Die klassische Restschule also. Mit sinkendem Niveau.
Ja. Sie müssen sich das so vorstellen: Die beiden Kinder aus der Grundschule, mit denen die Lehrer schon seit Jahren nicht mehr klarkommen, werden zusammengesteckt und bilden unsere Klasse. Das hat nichts mit Nationalität zu tun. Die klassische Hauptschule, die kann man nur abschaffen. Das sehen übrigens die meisten Hauptschulleiter so.
Warum sind Sie Lehrer geworden?
Mein Vater war Ingenieur, und das hätte ich mir auch vorstellen können. Deshalb habe ich erst mal eine Lehre als technischer Zeichner gemacht, aber das war nichts für mich. Dann habe ich Abitur gemacht und Biologie studiert, das hat mich interessiert. Später habe ich das PH-Studium gemacht. Eine große Motivation war damals – und ist es heute noch: Ich habe mit meinen eigenen Lehrern nur schlechte Erfahrungen gemacht. So wie die wollte ich nie werden.
Was war so schlimm?
Die haben einen behandelt wie den letzten Dreck, und wenn man ihren Erwartungen nicht entsprach, bekam man das ganz schnell zu spüren.
Sie haben in Baden-Württemberg studiert. Warum sind Sie nach Kreuzberg gekommen?
In Baden-Württemberg war das mit der Einstellung in den Schuldienst ganz schwierig. In Berlin ging das viel einfacher. Deshalb habe ich mich hier beworben. Ich hatte ja keine Ahnung, was mich hier erwartet. Damals, 1977, war das hier noch eine reine Hauptschule, und zwar die runtergekommenste in ganz Berlin. Hier sind wirklich Möbel zum Fenster rausgeflogen, Lehrer wurden mit Tomaten beworfen. Das war wirklich eine schlimme Ecke hier. Die Mauer war quasi überall, die Häuser waren verwahrlost. Die Leute, die es sich leisten konnten, sind weggezogen, geblieben ist die ärmste Schicht. Alkohol war ein Riesenproblem. Ich hatte viele deutsche Schüler, die ihre Mutter morgens erst mal aus der Kneipe geholt haben. Diese Kinder waren wenig motiviert, die haben gesagt, ich geh später sowieso zum Sozialamt …
Würden Sie also sagen, die Situation ist heute gar nicht schlimmer?
Nein, so pauschal nicht. Es war anders. Wir jungen Lehrer, alle um die 30 und noch mit viel Energie, haben gesagt: Wir müssen die Situation hier ändern, sonst halten wir das nicht aus. Damals bekamen wir vom Stadtrat ein Angebot. Wir sollten uns Gedanken machen, wie man die Schüler hier sinnvoll beschulen kann. 1980 fingen wir mit der Planung an. Erst sollte es eine Gesamtschule werden, aber dann kam Frau Laurien …
… die CDU-Politikerin wurde 1981 Schulsenatorin …
… und wollte in Berlin keine Gesamtschule mehr. Aber diese Frau hat uns auch geholfen, dass wir hier ein Schulkonzept entwickeln konnten, das immer noch toll ist: die integrierte Haupt- und Realschule, Überschaubarkeit, Ganztagsbetrieb, Teambeschulung, das Kurssystem, damit sich nicht alle durch alles durchquälen müssen. 1985 konnten wir mit der Schule anfangen.
Und heute – funktioniert Ihr Konzept?
Wir sind natürlich davon ausgegangen, dass die Klassen so ungefähr zu Hälfte mit deutschen Schülern besetzt sind. Wir haben versucht, das Konzept den neuen Bedingungen anzupassen.
Ist von der Aufbruchsstimmung von damals noch etwas übrig?
Das war eine schöne Zeit. Es war noch Geld da, die Internationale Bauausstellung hat sich das ganze Gebiet vorgenommen, auch unsere Schule wurde damals mit viel Liebe umgebaut. Es entstanden viele Initiativen, die mit Schülern gearbeitet haben. Es ging aufwärts. Das hat sich seit der Öffnung der Mauer sehr verändert. Jede Mark, die hier nicht mehr reingesteckt wird, macht sich bemerkbar. Die Verslumung nimmt wieder zu. Aber wir haben auch nicht mehr so viel Energie. Wir haben einen einzigen Kollegen, der noch keine 40 ist, im Schnitt ist unsere Lehrerschaft 52. Der frische Wind von jungen Kollegen fehlt. Das alles stimmt einen nicht freudig, aber wir müssen damit umgehen. Wir versuchen, unsere Schule als eine Art Insel zu halten.
Eine Insel in welchem Meer?
Die Regeln, die außerhalb der Schule gelten, gelten hier nicht. Und das setzen wir auch durch.
Und wie machen Sie das?
Die schärfste Sanktion, die wir dabei haben, ist die Versetzung an eine andere Schule. Das ist für unsere Schüler eine ganz schlimme Drohung. Die wollen hier bleiben. Genauso ist es eine schlimme Strafe, wenn ein Schüler vorübergehend suspendiert wird. Er darf dann so lange nicht zur Schule kommen, bis er mit seinem Vater oder seiner Mutter hier war und das Problem besprochen worden ist. Und die kommen umgehend. Nicht, weil sie der Unterricht interessiert, sondern ihr soziales Umfeld. Und daraus ausgeschlossen zu sein, das vertragen sie nicht.