: Die Schulbank drücken im Asylland
■ In der Tübinger Mörike–Schule werden Kinder aus dem Sammellager in der ehemaligen Thiepvalkaserne auf das erste Schuljahr vorbereitet / Unter Aggressionen und Hilflosigkeit im Lagerleben leiden auch die Kinder
Aus Tübingen Verena Klemm
„Nichts wie raus mit den Kindern aus dem Lager“ hatte im Sommer 1981 der Direktor der Mörike– Schule die Initiative einiger asylsuchender Eltern unterstützt, die für ihre Kinder die Möglichkeit des Schulbesuchs forderten. Obwohl sich diese - nach gewissenhafter (juristischer) Analyse - als nicht schulpflichtig erwiesen, „zeigte sich“, so der Direktor, „das Oberschulamt großzügig“ und richtete je eine Grund– und Hauptschul–IVK ein: Die Kinder könnten nach einem Jahr in eine deutsche Regelklasse übernommen werden. Spätestens aber nach einem auf den Hauptschulabschluß folgenden berufsvorbereitenden Jahr wird für sie das Ausbildungs– und Arbeitsverbot gelten, dem auch ihre Eltern unterliegen. Seit September letzten Jahres jedoch folgt auf den Zwangsaufenthalt im Lager eine von Beamtenschreibtischen aus gesteuerte Zuweisung der Asylbewerber in Städte über 10.000 Einwohner. Die Lehrer/innen der IVKs sehen sich außerstande, den Kindern noch einen Halt zu geben. Sie sprechen von einer „hohen Fluktuation“ vieler, immer anderer Flüchtlingskinder. In der Grundschul–IVK schwankte ihre Zahl im letzten Schuljahr zwischen 16 und 25: „50 bis 60 Quereinsteiger liefen durch“, und die wenigsten Schüler/innen waren von Anfang bis Ende dabei. Ähnlich schnell rotiert das Karussell der Zehn– bis Vierzehnjährigen in der Hauptschul–IVK. Im Lager selbst herrschen infolge der Zuweisungspraxis „Arbeitsbedingungen und Stimmung wie auf einem Verschiebebahnhof“, so ein Sozialarbeiter. Kontakte, Beziehungen, Initiativen „haben weder Dauer noch Stabilität“. Gezielter persönlicher Einsatz wirkt bisweilen wie etwas Sand im Getriebe der staatlich produzierten und verwalteten Flüchtlingsrealität. Im allgemeinen jedoch nimmt der Lageralltag seinen zunehmend systematisierten, behördenüberwachten Gang. Leben im Lager Im Lager leben zweihundert Flüchlinge unterschiedlicher Nationalität, dreißig davon sind Frauen, dreißig Kinder. Hinzukommen sechzig vietnamesische Kontingentflüchlinge. Klos, Abfall, Mittagessen - die Mischung der Gerüche, die die langezogenen Gänge erfüllt, läßt einem den Weg in den hintersten Takt der ehemaligen Kaserne schnell bestreiten. Auf zwei Stockwerken verteilt leben hier derzeit 15 Familien, jede in einem Raum, dessen Tür fast immer offen steht, denn Wohnraum ist auch der Gang, in dem sich die Radio– und Kinderstimmen aus den Zimmern summieren, in dem gespielt, herumgegangen und -gehangen wird. Zwischenstation für rund 30 Kinder, die Mehrzahl kommt aus den Slums von Beirut, nicht wenige ohne ihren Vater. Ein kleiner Eritreer, die übrigen entstammen dem einst priviligierten, westlich– orientierten iranischen Mittelstand. Ihre Familien sind klein und komplett. Und, anders als die Libanon–Flüchtlinge, haben sie die Perspektive, als asylberechtigt anerkannt zu werden. Auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts warten die Asylsuchenden durchschnittlich ein Jahr. Viele hier verbrachten einige Monate dieses Zeitraums in einem der Lager West–Berlins und danach in Karlsruhe, der „Zentralen Anlaufstelle“ Baden–Württembergs, von wo aus ihre „Verteilung“ koordiniert wird. In Tübingen dann, so ein Betreuer, versuchen viele, die Fremdverfügung und Repression des Lagers mit der starken Hoffnung zu bewältigen, bald ausziehen zu können - sei es auch nur infolge einer Zuweisung, die der Familie immerhin die Möglichkeit läßt, in irgendeiner Wohnung ein relativ eigenständiges Alltagsleben zu führen: „Dann blühen die meisten erst einmal auf.“ Danach aber folgt oft „der Einbruch“: Mittlerweile asylberechtigt (oder nicht), müssen sie erleben, daß ihre Flucht und das „Ausländer–Sein“ nicht vorüber, sondern existentielle Dauerzustände sind. Um sie darauf schon im Lager vorzubereiten, fehlt es - ganz abgesehen von „Mitarbeitern, Zeit und Sprachkenntnissen“ - an einer entsprechenden Zielsetzung der zwischen Land und DWW ausgehandelten „Sammelbetreuung“ (s. Kasten). Für Bedürfnisse, die über die „Zentrale Essensversorgung“ und Sachwertleistungen hinausgehen, erhält jede/r erwachsene Asylbewerber/in ein sogenanntes Taschengeld von 70 DM im Monat. Die für den zusätzlichen Bedarf von Kindern ausgezahlten Beträge liegen, nach Altersstufen gestaffelt, zwischen 11 und 49 DM. Für ein Kleinkind erhalten die Eltern 122 DM, für Drei– bis Sechsjährige nichts. Nicht zuletzt als Folge ihrer materiellen Armut verbringen die Lagerbewohner/ innen ihre „Freizeit“ meist innerhalb der Mauern und Zäune, die „Thiepval“ umgeben. Und andersrum passieren nur wenige Tübinger/innen den pförtnerbehüteten Durchlaß, hinter dem es mit dem gern beschworenen kosmopolitischen Geist der alten Uni– Stadt schnell ein Ende hat. Hin und wieder raus zum Schwimmen oder Spielen, mal ein Zirkusbesuch. „Der Etat des Kindergartens läßt uns“, so die Betreuerin der Lagerkinder, „keine großen Sprünge machen.“ Die Ausstattung der zwei Spielzimmer ist aus Spenden zusammengewürfelt. Die Kleineren werden dort vor– und nachmittags jeweils zwei Stunden beschäftigt. Ist schulfrei, kommen die Älteren als Extra–Gruppe hinzu. In der übrigen Zeit sind die Kinder im Wohntrakt, irgendwo in den Korridoren oder auf dem weitläufigen, asphaltversiegelten Hof unterwegs. Bruchstelle Lager Physische oder psychosomatische Störungen, wie sie 1981 bei 60 Prozent aller Tübinger Lagerinsassen nachgewiesen wurden 1, kann der stundenweise im Lager diensttuende Kassenarzt bei den Kindern „nicht so ohne weiteres feststellen“. Sie scheinen ihm nicht häufiger krank als deutsche Kinder auch. „Das eigentlich Erschreckende“ vielmehr sieht er darin, „daß sogar die Mütter von vielen Kindern es nicht mehr verstehen, mit noch so kleinen Befindlichkeitsstörungen umzugehen“. Familiäre Selbsthilfemechanismen, traditionelles Frauenwissen verlieren sich unter den Lebensbedingungen des Lagers sofort. Allein schon die erzwungene „Dekulturation ist eine Krankheit, unter der hier alle leiden, und die sich ganz verschieden äußern kann“. Ihre Symptome müssen erst einmal als solche erkannt werden. Wie äußert sich nun die Geschichte der Kinder, die doch sicherlich traumatische Erlebnisse wie Krieg und Flucht in sich tragen? Zu der sich nun auch noch das Leben im Lager fügt, in dem sie die (Verunsicherung und) Machtlosigkeit ihrer Eltern erfahren? Sie äußert sich in der heftigen Emotionalität, mit der sie fast alle an ihrer Lehrerin (ihrem Lehrer), der oft einzigen „starken“ Bezugsperson, hängen. Und gleichermaßen in ihrem „wahren Feuereifer“, ihrer „erstaunlichen Fröhlichkeit“, die, in der Schule an den Tag gelegt, zugleich die Energie erkennen lassen, mit der sie nach vorn fliehen um Früher– und Lagererlebtem zu entkommen. Zuflucht Schule - wo sie die Wertvorstellungen der neuen Umgebung schnell verinnerlichen. Während sie hier (zumindest in der ersten Phase ihres BRD–Aufenthalts) nur selten durch Aggressivität auffallen, beginnen in der Familie bereits Entfremdungskonflikte, bei denen es, so eine Lehrerin, „früher oder später nur so raucht und kracht“. (Z.B. wenn T., der 12jährige Lagerjunge, entdeckt hat, daß er seinen gewohnheitsmäßig prügelstrafenden Vater nur mit der deutschen Polizei kleinkriegen kann.) Die Lehrerin, die vor den Zwangsverschiebungen der Flüchtlinge ständig und manchmal erfolgreich zwischen Eltern und Kindern vermittelte, bekommt „davon aber nun kaum mehr etwas mit“. In noch viel stärkerem Maße gilt dies für die Brüche, die sich in der Vergangenheit der Kinder ereigneten. Selbst wenn die sprachliche Verständigung klappt, hüllen die sonst so vertrauensseligen Kinder die inneren Bruchstücke des Früheren und Anderen in Schweigen und gehen auch allen Fragen darüber aus dem Weg. Sie scheinen bestrebt, nur ihre jüngste, „deutsche“ Oberfläche zu präsentieren. Als unerwarteter Zugang zum verschlossenen Teil der kindlichen Erfahrung erwies sich für diedie Lehrerin ein Grimmsches Märchen, das sie der Grundschul–IVK in einfachen Worten erzählte und dessen Motive den Kindern offenbar bekannt waren: „Die waren plötzlich ganz aus dem Häuschen, daß ich, als fremdsprachiger Mensch, ihre Geschichte kenne, und sie hatten dazuhin das Erlebnis, ihre Geschichte nun in deutsch zu kennen.“ Eine Märchenfolge, die im Rahmen eines Caritas–Projektes in einer Gruppe vietnamesischer Flüchtlingskinder erarbeitet wurde, zeigte sich dann sogar als Methode, deren verborgene Geschichte in Sprache umzusetzen und unter therapeutischer Betreuung zu verarbeiten2. Dann passiert es, daß ein Kind sich die Ohren zuhält und von Beirut spricht, wenn ein Tiefflieger über Tübingen donnert. Oder ein anderes Kind erklärt, warum der Junge auf dem Foto nicht mit nach Deutschland kam: Gelegenheit, seine persönliche Geschichte zu verarbeiten, gibt man einem Flüchtlingskind in der BRD wohl nicht oft. „Kaum beginnt es sich zu stabilisieren“, bedauert die Lehrerin die Durchreisesituation, „ist es ja schon wieder weg“. Zwangsläufig ist dann auch seine Geschichte für die wenigen, die hier davon überhaupt etwas mitbekamen, zu Ende. 1) C. Henning, S. Wießner (Hrsg.): Lager und menschliche Würde. Die psychische und rechtliche Situation der Asylsuchenden im Sammellager Tübingen. AS–Verlag, Tübingen 1982. 2)Tetzner, Ingeborg R.: Die Abenteuer des Taomin. Herder–Verlag, Freiburg 1983.
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