: Die SPD muß den Mut zur Umkehr haben
■ "Wenn die SPD den jetzigen Weg weitergeht, droht unweigerlich ein noch tieferer Absturz", sagt der ehemalige Innensenator Erich Pätzold und fordert in einem Streitpapier seine Partei auf, nach der Wahl
Die fortwährenden Querelen an der Spitze der Bundespartei haben die Wahlaussichten der SPD in Berlin nachhaltig beeinträchtigt. Doch der Berliner SPD-Landesverband hat seinerseits den seit Jahrzehnten unattraktivsten Wahlkampf geführt. Das vermag auch der bewundernswerte Einsatz vieler vorzüglicher Bezirkspolitiker, Kanditaten und ihrer Helfer nicht wettzumachen. [...]
Anders als besonders 1989 erschien wenig am offiziellen Wahlkampf der Landes-SPD strategisch angelegt, offensiv und selbstbewußt. Er wirkte damit wie das Spiegelbild, ja, wie der logische Endpunkt des bewußtseinsverprägenden Alltags in dieser Großen Koalition: der eine Partner in Landowskyscher Dreistigkeit machtgierig, der andere selbstgenügsam. Kaum etwas erschien von dem Willen durchdrungen, die CDU als Konkurrentin um die Führung der Stadt zu schlagen und die ungeliebte Große Koalition entbehrlich zu machen. Unsere Spitzenkandidatin hat ihr Bestes gegeben. Konnten nicht wie in der CDU zu ihrer Entlastung andere Repräsentanten die rauheren Parts übernehmen? Auch für die SPD gilt: Eine Partei, die nicht haushoch vorn liegt, kann Wahlen nur betont kämpferisch gewinnen; sie muß bei großen Themen polarisieren. Schon die finanzielle Erdrosselung Berlins durch die Bonner Koalition unter Führung der CDU, von der sich viele Berliner 1990 bei ihrer Stimmabgabe das große Geld versprachen, hätte einen prallen SPD-Wahlkampf speisen müssen.
Es stand zu erwarten, daß die CDU auf ihre einzige Siegeschance setzen würde, in einer Schmutzkampagne ausgerechnet die Berliner SPD kommunistischer Anfälligkeit zu verdächtigen. [...] Dennoch hat diese Kampagne bei unsere Repräsentanten wenig mehr als beleidigte Betretenheit ausgelöst. Dadurch wurde sie wahlentscheidend, auch wenn einzelne von uns es jetzt aus Koalitionsneigung herunterspielen wollen. So kann die SPD keine Wähler zurückgewinnen. Wer sich zu Unrecht duckt, wird auch vom Wähler geduckt. Warum hat man einen solchen Koalitions-„Partner“ nicht sofort öffentlichkeitswirksam in die Schranken gewiesen, ihm nicht Koalitionsunfähigkeit bescheinigt? [...]
Alle Parteien sagen dem Wähler vorher, mit welchem Partner sie in einem Parlament ohne absolute Mehrheit vorzugsweise ihre politischen Ziele durchsetzen wollen. Allein die SPD leistet sich den Luxus ängstlicher Andeutungen, will es mit keinem Wähler verderben und verdirbt es dadurch mit vielen. Einige aus der kleineren Zahl von potentiellen SPD-Wählern, die eine Große Koalition vorziehen, trauen uns nicht über den rot-grünen Weg und wählen deshalb wie schon 1990 CDU. Umgekehrt befürchten viele aus der größeren Zahl unserer Wähler, die ein rot- grünes Reformbündnis wollen, ihre Stimme für die SPD werde über eine Große Koalition gar der CDU zugute kommen, und wählen sicherheitshalber grün, in den Ostbezirken gleich PDS. Gerade dort empfinden uns manche nur noch als „Abklatsch“ der CDU. [...]
Wenn die SPD den jetzigen Weg weitergeht, droht unweigerlich ein noch tieferer Absturz.[...] Besserung verspricht nur eine selbstkritische Offenheit und der Mut zur Umkehr. Dazu muß die Partei auch statt solcher Repräsentanten, die die erklärten Parteiziele nicht kraftvoll vertreten haben, ja eher koalitions- oder administrationshörig geworden sind, unverbrauchte, führungs- und charakterstarke Kräfte herausstellen, denen man einen neuen Aufbruch zutraut.
In Ostdeutschland drohen Wahlergebnisse zur Regel zu werden, bei denen der – nicht etwa schrumpfende – PDS-Anteil den demokratischen Normalfall einer Kleinen Koalition blockiert. Das erfordert ein neues strategisches Denken, sollen nicht für lange Zeit Große Koalitionen als einziger Ausweg erscheinen, demokratiegefährend und beide große Parteien verschleißend. [...]
An dieser scheinbaren Unausweichlichkeit (der Großen Koalition, d. Red.) hat ausschließlich die CDU ein Interesse, weil sie ohne FDP keinen natürlichen, bürgerlichen Koalitionspartner mehr hat. Sie predigt abgrundtiefen Abscheu gegenüber der PDS, freut sich aber klammheimlich über jede Stimme, die sie damit vorsätzlich der PDS zu Lasten der SPD zutreibt. Nur die CDU kann an einer langen Lebensdauer der PDS interessiert sein, hilft es ihr doch, ihren einzigen denkbaren Koalitionspartner, die im Wahlkampf verleumdete SPD, zu vereinnahmen. Diese PDS/CDU-Blockade muß durchbrochen werden.
Selbstverständlich gibt es für die SPD in Berlin, wie vor der Wahl erklärt, keine Regierungsbildung mit Unterstützung aus der PDS – Wählertäuschung und damit erzieltes Wahlergebnis der CDU hin und her. Wenn der CDU-Abscheu vor der PDS wirklich so abgrundtief sitzt, gibt es eine einfache, konsequente Lösung zur Vermeidung Großer Koalitionen, nämlich die so oft beschworene Gemeinsamkeit der Demokraten: Sie verständigen sich generell darauf, die Parlamentsstimmen der PDS bei der Regierungsbildung gedanklich beiseite zu lassen, unabhängig davon, wem das jeweils nützt. Hat also die CDU mehr Sitze als die SPD und Grüne errungen – wie jetzt hauchdünn – so steht die SPD in der demokratischen Pflicht, eine Minderheitsregierung der CDU zu tolerieren – wie es einige von uns schon nach dem Wahlergebnis 1990 gefordert hatten und zu garantieren bereit waren. Umgekehrt hat die CDU die gleiche demokratische Pflicht, eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen zu tolerieren, wenn beide zusammen mehr Sitze haben als die CDU. So liegen die Dinge in Sachsen-Anhalt, wo die abgewählte ehemalige Blockpartei CDU aus Postengier nicht nur ihre demokratische Pflicht verweigert, sondern in „Haltet den Dieb“-Manier SPD und Grüne, die Parteien des Wende-Aufbruchs, zynisch beschimpft.
Aber nach fünfjährigen leidvollen Erfahrungen mit einer Großen Koalition aus schwachen, aber rücksichtslosen, verleumderischen „Christ“-Demokraten und bis zur Selbstaufgabe loyal erscheinenden Sozialdemokraten darf sich die SPD auf keinen Fall erneut in eine Große Koalition hineintreiben lassen, soll nicht Berlin wieder von einer mehrheitslosen CDU dominiert und der SPD endgültig das Rückgrat gebrochen werden. [...] Die Gewichte haben sich nach links verschoben. Um so weniger darf die führende linke Partei ihre Grundposition ins Zwielicht geraten lassen. Nur so kann die SPD sich offensiv und erfolgreich mit der PDS auseinandersetzen. [...]
Die SPD gehört bei diesem ihre Regierungsrolle verwerfenden Wahlergebnis in die – zur Tolerierung bereite – Opposition, wenn sie Selbstlosigkeit und Erneuerungswillen unter Beweis stellen und damit Berlin über den Tag hinaus einen Dienst erweisen will. Das schuldet sie nicht nur sich selbst, sondern vor allem den vielen Menschen aus den breiten Bevölkerungsschichten, für die sie dazusein und wieder stark zu werden hat. Was kann der Stadt (und auch der CDU) Verläßlicheres widerfahren, als daß eine abgewählte Partei eine ihr angedichtete andere Regierungsbildung unterläßt, uneigennützig die Amtssessel räumt, aber eine Regierung der wählerstärksten Partei kalkulierbar toleriert? Wie anders soll sie je wieder zu eine wahlfähigen Alternative werden, deren es in der Demokratie zwingend bedarf?
Das freie Spiel der demokratischen Parlamentskräfte wird Berlin eine inhaltlich bessere Politik bringen als eine verformende Große Koalition. In sie haben sich Sozialdemokraten zu sehr einordnen lassen. Der Einfluß aus der tolerierenden Opposition heraus auf verantwortungsbewußtes, vorwärts weisendes und soziales Handeln in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung kann wirkungsvoller ausgestattet werden, als wenn man als eingebundener Juniorpartner einer Partei empfinden und handeln muß, von der uns grundsätzlich vieles trennt. Darum will die partnerlose CDU um fast jeden Preis eine Koalition, keine Tolerierung. Neben dreister Bevormundung darf man auf korrumpierende Ämter- und Paket- verlockungen gespannt sein.
Jeder Sozialdemokrat, besonders in bisheriger und in gewollter weiterer Verantwortung, der trotz des koalitionsbedingten Niedergangs für eine Fortsetzung der Großen Koalition plädieren wollte, wäre eine Antwort schuldig, woher die SPD den Optimismus nehmen soll, daß nun alles anders, alles besser wird. Er wäre Antworten schuldig, mit welchen frischen, erfolgversprechenden Konzepten und Repräsentanten er den Fall ins Bodenlose aufhalten und den Wiederaufstieg schaffen will. Er müßte sagen, wie er durchzusetzen gedenkt, daß die Ressortgewichte endlich erfolgsorientiert gesetzt und damit gravierende Fehler bei der letzten Senatsbildung korrigiert werden. [...]
Keiner, der jetzt selbstzerstörerisch immer noch einer Großen Koalition das Wort reden sollte, wird uns all diese unausweichlichen Existenzfragen befriedigend beantworten können.
Text wurde leicht gekürzt. Die Red.
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