: Die Rutschbahn als Realitätstest
Schwere Kost in den Untertiteln: In den Videos von Corinna Schnitt, zu sehen in der Galerie Olaf Stüber, prallen verschiedene Wirklichkeiten aufeinander
VON MARCUS WOELLER
Kinderspielplätze haben ihre Berechtigung nur durch ihre Benutzung. Durch spielende Kinder eben, die klettern, rutschen, schaukeln und damit diese eigenartigen Orte erst rechtfertigen. Die grell lackierten Rundholme, die dreidimensional gespannten Netze, Aluminiumrutschbahnen, grob zusammengezimmerte Planken und in den Proportionen verzerrte Architekturen trotzen sonst jeder ästhetischen Vernunft. Aber das ist Kindern in der Regel egal.
„Der Spielplatz“ heißt eine neue Videoarbeit der Künstlerin Corinna Schnitt. Die unbewegte HDV-Kamera hält auf einen Spielplatz im Wandel der Tageszeiten. Das Licht ändert sich, der Schatten eines Baumes bewegt sich mal langsam, mal in Zeitraffer über eine weiße Wand im Hintergrund. Bevor das erste Kind vor der isoliert wirkenden Konstruktion aus Klettergerüst, Rutsche, Häuschen und undefinierbarer Plastikverkleidung auftaucht, sind die Größenverhältnisse schwer auszumachen. Es könnte sich genauso gut um ein Modell eines Spielplatzes handeln. Doch dann erscheint von links ein Mädchen, stellt am Fuß der Rutschbahn die Tasche ab, erklimmt das Gerüst und rutscht langsam herunter. Ein zweites Mädchen kommt, würdigt den Spielplatz gerade noch eines Blickes, benutzt ihn aber nicht. Jetzt kommen erste Zweifel auf – Dokumentation oder Fiktion? Spätestens, als ein Eichhörnchen über den Platz huscht, und wechselnde Winde Blätter ins Bild wehen, erscheint der Realitätsgehalt des Gesehenen mehr als fragwürdig.
Corinna Schnitt hat schon häufiger mit Kindern gearbeitet und deren Blick auf die Welt mit der Perspektive der Erwachsenen konfrontiert. In ihrer Arbeit „Living a Beautiful Life“ von 2003 ließ sie ein Ehepaar vom perfekten Leben schwärmen. Dessen Äußerungen speisten sich aus Interviews, in denen US-Teenager nach Wünschen für ihre Zukunft befragt wurden. Aus dem Mund des steif lächelnden Paares wirken sie nur noch naiv und klischeehaft.
Der zweite Film „Von einer Welt“, der zurzeit in der Galerie Olaf Stüber, aber auch in einer Einzelausstellung von Corinna Schnitt im Museum Ludwig in Köln gezeigt wird, setzt sich ebenfalls mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit auseinander. Der Cinemascope-Blick einer 35-mm-Kamera richtet sich aus der Vogelperspektive auf eine Bergwiese – ob Alm oder sommerliche Skipiste, bleibt unklar – und ist mit schwerer Untertitelkost belegt. Da geht es um Handlungsmaximen und Entitäten. Dann wechselt die Szenerie, aber nicht Farbe und Obersicht. In sattem Grün nebst geschwungenem Bachlauf und Bäumchen liegen neun nackte Frauen im Gras. Wie abgeworfen aus einem Flugzeug oder entropisch verteilt wie weidende Kühe. Jedoch bewegen sie sich nicht, liegen einfach nur da. Und stören sich auch nicht an dem Herrn, der sie eine nach der anderen aufsucht, an der Wange tätschelt, am Unterarm streichelt, sich an die eine schmiegt oder sich der anderen in oral befriedigender Absicht zuwendet. Dann gibt es wieder Landschaft, Zitate von Habermas und das problematische Verhältnis von Subjekt und Seinsweise.
Mit den Zitaten aus Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ ironisiert Schnitt die romantische Gebirgspastorale und versetzt den eben noch voyeuristischen Zuschauer in eine Soziologievorlesung. Doch während Habermas noch Geltungsanspruch und Wahrhaftigkeit diskutiert, reflektiert die Künstlerin mit absurdem Humor Geltungsdrang und ganz individuelle Wahrheiten.
Corinna Schnitt gelingt es wie sonst nur wenigen Videokünstlern, ein komplexes Kontinuum zu schaffen, das sowohl inhaltlich als auch ästhetisch überzeugt. Mit der Hinwendung zum Breitwand-Format hat sie sich nun einen neuen bildnerischen Horizont eröffnet, bleibt aber ihrer Herangehensweise treu. Sie vereint Recherche, Dokumentation und Fiktion, lässt in ihren Filmen die verschiedenen Wirklichkeiten nach Belieben aufeinanderprallen und würzt mit gezielten Provokationen. So fordert sie ihr Publikum zur Überprüfung der eigenen Wahrnehmungskonventionen auf. Und bleibt doch immer lakonisch und subtil.
Corinna Schnitt, in der Galerie Olaf Stüber, Max-Beer-Str. 25, Di.–Sa. 13–18 Uhr, bis 22. Dezember