: Die Russen sind weg
■ Still und heimlich packen die „Freunde“ ihre Sachen/ Manchmal dauert es Tage, ehe ihr Abzug bemerkt wird/Zurück bleiben ärmliche Unterkünfte/ Die Dorfjugend fleddert den Nachlaß
Halle (taz) — Die Russen ziehen ab, die deutschen Kleinstädte atmen auf. Lieber heute als morgen möchten die Deutschen sie loswerden, die „Beschützer“, „Großen Brüder“ und „Freunde“ von gestern, die wie hartnäckige Rudimente der eigenen verkorksten Vergangenheit noch immer mit ihren blubbernden 'Kamas‘ durch die Dörfer buckeln, als gehöre das alles ihnen. Die Russen ziehen nun ab. Bemerkenswert an diesem Rückzug ist nicht mehr der Fakt an sich, sondern einzig und allein wie sie es tun: Vorzugsweise bei Nacht und Nebel werden die über sechsundvierzig Jahre siegreich gehaltenen Bastionen aufgegeben. Vorankündigungen bei deutschen Stellen gibt es in den meisten Fällen nicht — die Betonköpfe im sowjetischen Heer spielen noch einmal Besatzungsmacht. Verschiedenenorts hat es Tage gedauert, ehe Nachbarn und Behörden mitbekamen: Die Russen sind weg!
Auch im Dörfchen Schotterey bei Halle hat das letzte kyrillische Kapitel in der Ortschronik mit diesem Ruf begonnen. Und was zuerst keiner der paar hundert Schottereyer glauben wollte, stellte sich schließlich schnell als wahr heraus. Still und unbemerkt hatte die am Rande des Ortes stationierte sowjetische Fliegerabwehreinheit ihre Sachen gepackt und war verschwunden. „Einfach weg“, meint Klaus Gärtner, der kaum einen Steinwurf entfernt vom ehemaligen Gelände der Roten Armee wohnt, „Wir haben das zuerst gar nicht mitbekommen. Die haben ihre Antennen zersägt und sind ausgeflogen, sogar ohne ihr persönliches Zeug mitzunehmen.“ Im Ort sprach sich blitzschnell herum, daß die Russen verschwunden sind. Wer immer konnte, tanzte in den Stunden danach zum spontan einberufenen Tag der offenen Tür in der russischen Raketenstellung oberhalb des Dorfes an. Klaus Gärtner erzält: „Zuerst sind wir nur so rumgelaufen, haben überall reingeguckt und Bunker gesucht.“ Allerdings erfolglos. Außer ärmlichen Soldatenunterkünften, weggeworfenen Ausrüstungsgegenständen aller Art, halbverbrannten Akten im Heizungskeller und dem vollständig zurückgelassenen Wandzeitungsmaterial der Politabteilung gab es nichts zu entdecken.
Die Bunker, über die das Gerücht seit Jahren hatte wissen wollen, sie seien dutzende Meter tief und wenigstens fußballfeldgroß, stellten sich als simple Erdhöhlen heraus: dumpf riechend, muffig und ziemlich schmutzig.
„Mehr war das nicht“, meint Gärtner abwinkend. Am Tag danach begannen die ersten, von den Russen zurückgelassene Kühlschränke, Bettgestelle, Tische, Stühle und Feuerlöscher zu requirieren. Und weil Bauern alles gebrauchen können, war die Konversion der russischen Raketenstellung binnen einer Woche beendet. Was nicht niet- und nagelfest war, ließen die Schottereyer mitgehen. Angefangen bei den Lichtschaltern bis hin zu den massiven Dielen der ehemaligen Mannschaftsunterkunft, kein Stein blieb auf dem anderen, nichts Brauchbares liegen. An den Abenden gehört das Gelände seitdem der Dorfjugend. Scheiben knallen, Bierpullen donnern in die übriggebliebenen Spiegel, da und dort flackern Lagerfeuer. Russische Uniformteile werden verbrannt — im Suff wird der Krieg nun doch noch gewonnen.
Viel später erst hat sich herumgesprochen, daß Angestellte des Landratsamtes „vorübergehende Sicherungsmaßnahmen“ ergreifen. Nachdem einige Fässer mit „undefinierbarem Inhalt“ und der Aufschrift „Achtung — Schädigt das Nervensystem“ [kann nur Schnaps sein. sezza] geborgen und abtransportiert sind, werden ringsum das Gelände am Stacheldrahtzaun Schilder mit der Warnung „Betreten verboten — Bundesvermögensverwaltung“ aufgestellt.
Schlagzeilen macht derweil der erste „Tag der offene Tür“ in einer sowjetischen Kaserne auf deutschem Boden — einen Tag lang hatte ein westdeutscher Geschäftsmann die unweit von Schotterey gelegene größte Fliegergarnison im mitteldeutschen Raum gemietet und mit „verschiedenen, kostenlosen Attraktionen“ vollgestopft. Vierzig- fünfzigtausend aus den umliegenden Städten und Gemeinden kamen, aßen, tranken. Und schauten schon mal... Steve Körner
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