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Archiv-Artikel

american pie Die Retrobewegung

Die Vintage Base Ball Federation will den Sport im alten Stil aufführen – inklusive Spucknapf am Spielfeldrand

Jim Bouton hatte sich in Schale geschmissen. Mit weißem Hemd, grauer Weste und schwarzer Melone wirkte der 67-Jährige wie ein Gentleman aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Und das war auch genau seine Absicht. Schließlich hatte der Vorsitzende der Vintage Base Ball Federation (VBBF) zur Pressekonferenz nach New York, ins 1836 eröffnete Restaurant Delmonico’s geladen, um zu verkünden, dass sein „Altmodischer-Baseball-Verband“ gedenke, eine Liga aus der Taufe zu heben, in der Baseball möglichst authentisch gespielt werden soll – so wie vor mehr als einhundert Jahren.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde „base ball“, damals noch auseinander geschrieben, zur beliebtesten Sportart in den USA und etablierte sich als „America’s Pastime“, als Amerikas Zeitvertreib. Der erste Klub, die Knickerbockers, hatten sich schon 1845 gegründet, aber erst der Bürgerkrieg machte das bis dahin nahezu ausschließlich in New York betriebene Spiel auch im Rest des Landes populär. Als die Konföderierten 1865 kapitulierten, gab es bereits die ersten Profis: Die Cincinnati Red Stockings spielten regelmäßig vor mehr als 40.000 Zuschauern und konnten ihrem Star Albert Reach ein damals exorbitantes Jahressalär von 1.000 Dollar bezahlen. Kurz darauf entstanden die ersten, meist kurzlebigen Profi-Ligen, 1876 dann die National League, die bis heute existiert. Es waren aber auch die Jahre, in denen die Regeln des Spiels verfeinert und die Grundlagen für seinen kommenden kommerziellen Erfolg gelegt wurden.

Der Nostalgiker Bouton war selbst ein hervorragender Pitcher für die New York Yankees. Furore allerdings machte er vor allem mit einem 1970 erschienenen Buch, in dem er eine Saison einer fiktiven Baseball-Mannschaft schildert. Der Realitätsbezug von „Ball Four“ war unübersehbar, es enthüllte erstmals den unter den Profis grassierenden Drogenmissbrauch und machte Bouton jahrzehntelang zur Persona non grata in Baseball-Zirkeln.

Kein Wunder, dass er sich da lieber der guten alten Zeit widmet. Seine VBBF soll im Sommer 2007 den Spielbetrieb aufnehmen. Bouton rief Amateurteams im ganzen Land auf, sich an der Retro-Bewegung zu beteiligen und sich für die Liga anzumelden. Gespielt werden soll „einfach nur Baseball, so wie das Spiel gespielt werden sollte“, also „ohne Ellbogenschützer, Schweißbänder oder Sonnenbrillen“. Die Pitcher stehen beim Wurf nicht auf einem Hügel, sondern auf gleicher Höhe wie die Batter. Die dürfen dafür keine Helme tragen. Fanghandschuhe in Übergrößen sind ebenso verboten wie Diskussionen mit den Schiedsrichtern, die nur mit „Sir“ angesprochen werden. Außerdem werden viele der Regeländerungen wieder zurückgenommen, um die glorreichen Gründerjahre nachzustellen – bis hin zum Spucknapf vor der Ersatzbank.

Allzu päpstlich wird es allerdings nicht zugehen in der neuen Liga. So sind Auswechslungen erlaubt und Spielansetzungen am späten Abend nicht verboten, obwohl im 19. Jahrhundert nachmittags gespielt wurde. Auch Hosen und Trikots sollen zwar vom Schnitt an die historischen Vorbilder erinnern, können aber aus modernen Stoffen gefertigt sein. Das damals übliche Flanell wäre zu empfindlich und neue Trikotsätze würden die Kosten in die Höhe treiben.

Bouton und seinem Verband geht es vor allem um die Traditionspflege. Die allerdings, so seine Kritiker, neigt zur Verklärung der Vergangenheit. Denn in den verwegenen Gründerjahren waren verschobene Spiele ebenso an der Tagesordnung wie Schlägereien auf dem Feld und wildes Wetten in den Rängen. „Die Achtziger- und Neunzigerjahre des 19. Jahrhundert“, so John Thorn von der Gesellschaft für amerikanische Baseball-Forschung, „waren geprägt von schlechtem Benehmen der Spieler gegenüber Schiedsrichtern, Gegnern und Zuschauern“. Ganz so exakt allerdings will Bouton die goldenen Zeiten dann doch nicht nachstellen. THOMAS WINKLER