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Archiv-Artikel

NICHTS BLEIBT, WIE ES WAR. DAS IST DIE BOTSCHAFT DER KRISE, UND DIE GILT BESONDERS FÜRS FERNSEHEN Die Realität verändert Spaniens Telebasura

VON REINER WANDLER

NEBENSACHEN AUS MADRID

Vorbei sind die Zeiten, als die ganze Woche über die letzte Ausgabe des Programms Salsa Rosa – Rosa Soße – die Gespräche am Arbeitsplatz und an der Theke bestimmte. Die Sendung, in der Stars und Sternchen sowie allerlei von Berlusconis spanischem Telecinco selbst kreierte TV-Monster ihre Streitigkeiten, ihre Anschuldigungen und ihre peinlichsten Seiten zum Besten gaben, musste El Gran Debate – der großen Debatte – weichen. Plötzlich hat Spanien neue Themen und neue Stars, am Arbeitsplatz, am Tresen und in den sozialen Netzwerken.

Es sind Menschen wie der Kellner Alberto, der beherzt Demonstranten in Schutz nahm, als diese vor einem Polizeieinsatz Zuflucht in seiner Kneipe suchten. Er kam zusammen mit einem Rentner zu Wort, dem die Polizei einen Arm brach, als er an ebenjenem Tag verhaftet wurde. Es ist der ehemalige Vorsitzender der Vereinigten Linken, der ganz offen gegen die Monarchie und für eine Dritte Republik eintritt. Oder es sind Menschen wie Ada Colau, die Aktivistin der Vereinigung der von Zwangsräumungen betroffenen Kreditschuldner. „Banker sind Kriminelle“, gibt sie zum Besten und fast ganz Spanien stimmt zu. Selbst in den allmorgendlichen Hausfrauenprogrammen hat es sich ausgetratscht. Als der Gerichtshof der Europäischen Union kürzlich die Praxis der Zwangsräumungen von Wohnungen teilweise für unrechtmäßig erklärte, feierten die Aktivisten den Richterspruch live im Studio.

Die Realität hat das, was in Spanien Telebasura – Müllfernsehen – hieß, abgelöst, ohne dass die Einschaltquoten darunter leiden würden. Bei sechs Millionen Arbeitslosen und rund 400.000 zwangsgeräumten Wohnungen ist die Krise in einem Land, wo die Glotze ständig läuft, im Herzen des Fernsehpublikums angekommen.

Eine internationale koffeinhaltige Brause und die Tratschpostille Pronto gehen gar noch einen Schritt weiter. Sie nutzen die Empörung der Bevölkerung für ihre Marketingkampagnen. Der Getränkehersteller installierte an öffentlichen Plätzen verblüffend echt aussehende Geldautomaten, die auf Knopfdruck 100-Euro-Scheine verschenkten, nachdem der Empfänger bestätigt, das Geld für notleidende Nachbarn einzusetzen. Die so Bedachten wurden dann gefilmt, wie sie Windeln, Lebensmittel oder Spielsachen an arbeitslose Nachbarn verschenken. Und die Zeitschrift Pronto legte jüngst einer Ausgabe Aufkleber gegen Zwangsräumungen bei, die mittlerweile in so manchem Treppenhaus kleben.