: Die Prager „Lustrations-Orgie“
Verdächtigungen bestimmen das politische Klima/ Summarische Justiz gegen Ex-Kommunisten/ Propagierung des Klassenkampfes häufig unter Strafe?/ Bevölkerung in der „Opferrolle“ ■ Aus Prag Sabine Herre
In eine Bühne — und auch in einen Gerichtssaal — hat sich das tschechoslowakische Parlament verwandelt. Hier, am oberen Ende des symbolträchtigen Wenzelsplatzes werden immer weniger politische Reden gehalten. Hier, zwischen Nationalmuseum und Smetana-Theater ist dagegen die politische Aktion zum unverzichtbaren Bestandteil der „politischen Kultur“ geworden: Parlamentarier treten in Hungerstreik, Abgeordnete verlassen bei Wortmeldungen bestimmter Kollegen das Plenum, andere fordern lautstark und wiederholt den Rücktritt ihnen unliebsamer Mitglieder des Parlamentspräsidiums.
Im Hintergrund all dieser Aktionen steht eine Diskussion, die die Tschechoslowakei seit nunmehr fast zwei Jahren beschäftigt. War während der „samtenen Revolution“ des Herbstes 1989 nicht nur für Vaclav Havel, sondern auch für die Mehrheit der Bevölkerung „Versöhnung“ die bestimmende Forderung gewesen, so wurde seit dem Zerbrechen des nationalen Konsenses und dem Entstehen der ersten Parteien immer häufiger von der „Abrechnung mit den Tätern der Vergangenheit“ gesprochen. In den Spalten der Presse tauchte ein neues Wort auf, es hieß „Lustration“. „Lustriert“, „durchleuchtet“, auf eine Betätigung als Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes untersucht werden sollten vor den ersten freien Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 zunächst die zur Wahl stehenden Kandidaten. Bereits damals gab es erste, unerwartete Opfer. Der Spitzenkandidat der Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ mußte ebenso von der Wahlliste gestrichen werden, wie der Vorsitzende einer ehemaligen Blockpartei. Andere folgten. Nach dem Auftauchen neuer Geheimdienstverzeichnisse wurden die Abgeordneten erneut lustriert, bei einem „positiven“ Ergebnis zum Rücktritt aufgefordert. Vier Abgeordnete gaben im April 1991 freiwillig ihr Mandat ab, zehn wehrten sich. Das Parlament spaltete sich, ebenso die Bevölkerung. Hier wie dort wollte eine Mehrheit keinen Zweifel an der Arbeit der Untersuchungskommission aufkommen lassen, nur wenige waren bereit, die Kritik der sich beharrlich verteidigenden Abgeordneten überhaupt anzuhören.
Gespalten hatte sich in der Zwischenzeit jedoch auch das „revolutionäre“ Bürgerforum. Eine eindeutige Mehrheit von jungen Berufspolitikern um Finanzminister Vaclav Klaus gründete einen konservativen „Wahlverein“, zurück blieben die ehemaligen Dissidenten um die Charta 77. Ihre reformkommunistischen Mitglieder waren von nun an ständigen Angriffen der Anhänger des „freien Marktes“ ausgesetzt. Als im Herbst 1991 ein historisches Seminar über den Prager Frühling stattfand, saßen auf einmal nicht mehr die russische Besatzer, sondern die tschechoslowakischen Reformkommunisten — allen anderen voran Alexander Dubcek — auf der Anklagebank. Verteidigen mußten sie sich nicht allein für die Unterzeichnung des Moskauer Protokolls, verteidigen mußten sie sich vor allem dafür, daß sie nicht bereits vor 22 Jahren ihren sozialistischen Ideen abgeschworen hatten. — Wenige Wochen zuvor hatte man versucht, das ständig neu ausbrechende Lustrationsfieber durch ein Gesetz in seine Schranken zu weisen. Statt dessen jedoch schuf man einen modernen Pranger: Jeder konnte von nun an selbst seine eigene Durchleuchtung beim Innenministerium beantragen. Wer hierzu nicht bereit war, der hatte — so die Presse unmißverständlich — sicher etwas zu verbergen. Daneben regelte das Gesetz jedoch auch die Voraussetzungen für eine Tätigkeit im Staatsdienst. Ausschlaggebendes Kriterium war dabei nun nicht mehr allein eine Mitarbeit bei der Stasi, Kriterium war nicht mehr eine nachgewiesene Verletzung der Menschenrechte. Ausschlaggebend war nun auch die Mitgliedschaft bei der Volksmiliz sowie ein höhere Parteifunktion. Und so standen die ehemaligen Reformkommunisten erneut im Mittelpunkt. Schließlich hatten die meisten von ihnen irgendwann einmal eine höhere Funktion innegehabt, überprüft wurden nicht allein die letzen 20 Jahre, beurteilt wurde die politische Tätigkeit seit der kommunistischen Machtübernahme 1948.
Im Dezember 1991 holten die christdemokratischen und konservativen Parteien dann zu ihrem vorerst letzten „Schlag“ aus. Durch eine Änderung des Strafgesetzbuches wurden „die kommunistische und die faschistische Ideologie“ einander gleichgestellt, die „Propagierung des Klassenkampfes“ kann nun mit Freiheitstrafen bis zu acht Jahren geahndet werden.
Gegen die antikommunistische Stimmung wagt in der Tschechoslowakei heute kaum einer die Stimme zu erheben, viele trauen sich nur noch im Freundeskreis zuzugeben, „links“ zu stehen. Verdrängt wird aber auch die eigene Vergangenheit. Schließlich war die Kommunistische Partei aus den letzten freien Wahlen vor der kommunistischen Machtübernahme mit 38,4 Prozent als stärkste Partei hervorgegangen, in den kurzen Monaten des Prager Frühlings hatte 18.000 Tschechen und Slowaken einen Antrag auf Aufnahme in die Partei gestellt. Heute jedoch ist die Mehrheit der Bevölkerung nicht bereit zuzugestehen, daß es Unterschiede zwischem dem Stalinismus eines Klement Gottwald, der „Normalisierung“ eines Gustav Husak und dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den Alexander Dubcek verwirklichen wollte, gibt. Die Begeisterung mit der so viele tschechische Dichter vor und nach dem Zweiten Weltkrieg für eine gerechtere Gesellschaftsordnung eintraten, gilt als naiv, aufgerechnet werden statt dessen die Opfer des Gulags. Zu diesen Opfern zählen die Tschechen vor allem aber auch sich selbst. Und so geht ihnen die Abrechnung mit der Vergangenheit noch immer nicht weit genug. Jeder, aber auch jeder, weiß von Arbeitsplätzen zu berichten, auf denen noch immer die „alten Strukturen“ herrschen. Alle, nahezu alle, sind davon überzeugt, daß allein diese die ökonomischen Reformen behindern. Sollte sich die wirtschaftliche Situation in den nächsten Wochen weiter verschlechtern — und damit ist angesichts der anstehenden Privatisierung zu rechnen — werden die Sündenböcke schnell gefunden sein.
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