: Die Ohm
In Wirklichkeit sind die Worte
die Schwarzen Löcher. Die Gebärmutterschleim-
haut wird abgestoßen, die
Regelblutung setzt ein, die Erinnerung
ist eine Nutte, der Erzähler ein Lügner,
die Seele ist mandelgroß. Na, und?
Nur Nichtmusik macht aus Musik Musik.
Entzückt riechen Fliegen den Tod, surren
in sinnlosen Wiederholungszwängen, schlagen
die Türen zu, starren ins Leere, fingern
an Fetzen, schweifen ruhelos rum,
träge wälzt sich das Erbgut durch Raum & Zeit.
Organische und anorganische Relikte häufen sich
wie Beweisstücke vor einem Tribunal.
Manchmal erscheint die Seel wie eine Mandel.
Manchmal erscheint die Welt wie ein Scheitholz, die
scheinbaren Verschiedenheiten stimmen
ganz & gar überein wie Chöre zwischen Erde & Luft,
Bitter & Süß und dem zuckenden Körper des Andern,
der die Todesangst anzieht und frißt,
eine riesige Masse, und Schwärme von Libellen
segeln über Oberflächen und um die Ufer steht
ein Kordon aus Rohr, Minze, Schilf,
in denen sich Mädchen wälzen zu Johannis, schwanger
von feisten Winden.
Ferne Börsen diktieren die Getreidepreise und
eine Königin tritt in den Bauch
der Erbin und hundert Blitze blitzen, jeden Augen-
blick, und mandelgroß, sela, mandelgroß
ist die Seela, zittert
in faltigen Gängen, in Nährzellen, in
den Lehmufern der Ohm und die Vogel-
jungen hören den Tutorgesang des Vaters und
in den Umgruppierungen des Wassers lauschen
die Feten den Lautmustern der Mutter-
sprache und die Plazenta wird gegessen
in vielen Dörfern, mandelgroß, sela,
ist die Seela, immer
findest du sie, wenn du sie findest,
mit Speichel in den Mundwinkeln, später
versinkt sie in Qualmmänteln, Aschenregen, in
Vulkanregen und Eidechsenfang und fortwährend
entstehen komplexe Haufen von Seelen-
molekülen, zerfallen, vergehen, entstehen,
die Seel ist wie Wasser,
fließendes, sich erregt unentwegt bewegendes,
instabiles Ergebnis einer irr-
sinnigen Anzahl auf Stelzen stehender Insekten,
die sich ergießen in gelber Hochblüte und
die Bitterkeit eines niemals angenommenen Geschenks aus-
strahlen, die Seele markiert das Becken und dessen
bevorzugte Schwellung, die Seele läßt sich von einem,
den sie nicht liebt, Dessous kaufen und bei
Kerzenlicht bummsen, sie sieht
die Stiefel der Wächter, sie sieht die Waggons,
sie sieht, inmitten von Feuchtigkeit und unter süßen Spiegeln
und in einem Jammer, unbestimmt und unfaßbar
wie etwas, das sich vor langer Zeit hinter dem Paravant zutrug,
sich selbst, sie entsteht
im Spalt zwischen Null & Unendlich,
die Seele
ist Anziehung, Abstoßung, Glätte, Durch-
dringung, Abprall, Worthaufen, Schnappatmung, Ohm:
Dies ist nur der Anfang des Langgedichts „Die Ohm“ von Paulus Böhmer. Zum Weiterlesen sei auf die im Verlag Peter Engstler erschienene Ausgabe verwiesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen