: Die Nüchterne
Die Wilhelmshavener SPD-Bundestagsabgeordnete Karin Evers-Meyer ist die neue Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung. Was Behinderung bedeutet, weiß die 56-Jährige aus eigener Erfahrung – ihr neues Amt aber geht sie dezidiert sachlich an. Ihr Arbeitsethos: „Ich muss Expertin werden“
von Benno Schirrmeister
Dass sie zu wenig geschlafen hat, lässt sie sich nicht anmerken. Hält sie halt den Rücken besonders gerade, die Augen extra weit auf, die roten Äderchen bemerkt ohnehin nur, wer ganz genau hinschaut, und wer täte denn das. Karin Evers-Meyer selbst natürlich schon, sie will zumindest von den Fotografen nach dem Besuch der Wilhelmshavener Kinderhilfe wissen, ob sie die Lider nicht immer geschlossen gehabt habe, beim Knipsen, das sei so eine Spezialität von ihr.
Das neue Amt heißt erst einmal viel pendeln, von Berlin hierher nach Wilhelmshaven, wo Karin Evers-Meyer ihren Wahlkreis hat, und wieder zurück. Noch häufiger als in den vergangenen drei Jahren. Die Bahnverbindungen sind grauenhaft, viereinhalb Stunden, wenn der Zug einmal planmäßig führe, umsteigen in Hannover oder in Hamburg, manchmal in Bremen, immer in Oldenburg.
Einarbeiten heißt das auch, und zwar flott, in die sperrige Materie der Sozialgesetzgebung, das neunte Buch, das zweite Buch, die Kommentare, das ist keine Frühstückslektüre. Und immer so wirken, als wäre man heute und jetzt an diesem dunklen Dezembermorgen genau hier am liebsten bei diesem Termin bei der Wilhelmshavener Kinderhilfe, um sich über Frühförderung zu informieren. Was sogar stimmen kann: Sie hätte ja noch ein bisschen Zeit gehabt, Amtsantritt ist erst in zwei Tagen. Auch wenn sie am Wochenende zuvor bereits die erste Rede hat halten müssen, bei der es darauf ankommt, zwar nicht die Fachfrau zu spielen, die sie noch nicht ist, aber doch auch mehr als Belangloses abzusondern, Kompetenz zu signalisieren, wenigstens die richtigen Fragen zu stellen. Und erstmals auch in einem offiziellen Rahmen die eigene Betroffenheit zu erwähnen.
Sehr bewusst sind die Akzente auf jeden Fall gesetzt: Zum Wahlkampf hat sie ihr Outfit komplett umgekrempelt, die halblangen dunklen Haare sind einem feschen Kurzschnitt mit blonden Strähnchen gewichen, der Lippenstift war vorher burgund, das Kleid damenhaft lila. Jetzt überwiegen hellere Töne, und natürlich trägt sie graue Hosenanzüge, die Uniform der tatkräftigen Frau ab 50. Als Evers-Meyer ehrenamtliche Kreisrätin in Friesland war, sagt ihr CDU-Gegenspieler Hans-Werner Kammer, habe sie „die repräsentativen Aufgaben sehr gut wahrgenommen.“ Er beschreibt sie als „in der Sache hart, aber fair im Umgang“.
Karin Evers-Meyer ist die neue Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung, korrekter: Beauftragte für die Belange behinderter Menschen. Die Klientel gilt als heikel, weil sie genau weiß, wie es ist, abgespeist zu werden. Auf entsprechende Anzeichen wird harsch reagiert: Als Evers-Meyers Vorgänger Karl-Herrmann Haack vor sieben Jahren benannt worden war, da gab es massive Kritik – Haack war ein Apotheker, ohne einschlägige Erfahrungen und nicht einmal ein ausgewiesener Sozialpolitiker. Das Vertrauen der Verbände hat er sich erst mühsam erkämpft.
Klar, deren Favorit war diesmal Hubertus Hüppe, weil Fachmann, für den gab es sogar eine Unterschriften-Aktion. Aber Hüppe ist CDUler, und das Ministerium ist an die SPD gegangen. Und dann hat Haack, das bestreitet niemand, sehr gute Arbeit geleistet. „Wir haben uns von ihm eines Besseren belehren lassen“, sagt beispielsweise Barbara Vieweg von der Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben. Also warte man jetzt erst einmal ab. Mit ihrer ersten Rede habe Evers-Meyer jedenfalls einen „sehr positiven Eindruck“ hinterlassen. Sie habe „sehr authentisch gewirkt“. Das war am 3. Dezember, Zentralveranstaltung zum Welttag der Menschen mit Behinderung, Berlin. Die offizielle Amtseinführung war am 7. Dezember, wieder in Berlin. Der Besuch bei der Kinderhilfe: genau dazwischen, anschließend muss sie noch nach Jever, und Sprechstunde hat sie auch noch: „Den Wahlkreis darf ich deshalb nicht vernachlässigen“, weiß sie. Das Amt in allen Ehren.
Evers-Meyer ist im vergangenen September zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt worden, als Direktkandidatin in Friesland. Beim ersten Mal hatte sie 54,8 Prozent bekommen, 2005 waren es 50,4 Prozent. Von außen betrachtet liest sich die Bilanz nicht so prall: Die Parlamentsakten verzeichnen neben dem Zwischenruf „Vor allem Bayern!“ drei Reden, davon eine auf Platt zum Thema Regional- und Minderheitensprachen in Deutschland – schließlich ist sie auch Ehrenpräsidentin des niederdeutschen Bühnenvereins. Die anderen kreisten um Themen wie die „Vereinbarkeit von Familie und Soldatenberuf“ oder die Frage, ob die Bundeswehr „im Inneren“ eingesetzt werden dürfe. Die hat sie mit Nein beantwortet.
Sich im Bundestag zu profilieren ist kein leichtes Geschäft. Für Titel und Funktionen müssen sich Neulinge gewaltig strecken. Auf Anhieb hat ihre Fraktion die Frau aus dem Örtchen Zetel zur marinepolitischen und stellvertretenden verteidigungspolitischen Sprecherin gemacht, mit Sitz im Fachausschuss. Das wollte sie so, denn viel mehr Arbeitgeber als die Bundeswehr hat Wilhelmshaven nun mal nicht. Und sie hat es erreicht, obwohl da „offensichtlich alle“ hinwollen. „Aber“, sagt Evers-Meyer, „ich bin sehr zielstrebig veranlagt.“ Den Sitz wird sie behalten.
„Kaufmännische Ausbildung, 8 Jahre Akademie der Künste, Berlin, Begabtenabitur“, das sind die dürren Angaben der Abgeordneten-Biografie des Bundestages. „Geboren: 10. September 1949“, steht da noch und „verheiratet, 2 Söhne“. Nicht steht da, dass einer der Zwillinge durch eine Sauerstoff-Unterversorgung bei der Geburt eine Behinderung hatte, geschweige denn, dass er im Alter von 25 Jahren gestorben ist, vor vier Jahren. Kurz danach hat sie fürs Parlament kandidiert. „Ich wollte nie so eine Betroffenheits-Politikerin sein“, sagt Evers-Meyer. Nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, dass diese biografischen Tatsachen mittlerweile mit der eigenen Aufgabe direkt zu tun haben. „Sie haben ein Recht darauf, von mir auch etwas sehr Persönliches zu erfahren“, hatte sie ihren offensiveren Umgang damit bei ihrer Rede zum Welttag eingeleitet. Die Details des Unglücksfalls lässt sie weg.
Als Evers-Meyer wiederholt, für sie sei sofort klar gewesen, dass sie der erste Besuch in ihrem neuen Amt hierher führt, und die ausgezeichnete Arbeit der Einrichtung lobt, teilt ihr ein stolzgeschwellter Vereinsvorsitzender mit, dass sie „die Wilhelmshavener Kinderhilfe durch Ihren Besuch“ auszeichne, „ganz bestimmt“. Später steckt er noch jedem, der’s wissen will, dass man mit Evers-Meyer auch haarig streiten könne, „das hat mit dieser Sache aber nichts zu tun“.
Der hymnische Ton scheint ihr allerdings wirklich nicht zu liegen. Sie spricht schnell und auf die Sache orientiert. „Ich bin nicht die Sprecherin aller Behinderten“, konstatiert sie nüchtern, „sondern ich habe dafür zu sorgen, dass die Bundesregierung diskriminierungsfrei arbeitet.“ Mit deren Chefin ist sie trotzdem noch kurz vor Weihnachten auf Kollisionskurs gegangen: Den Entwurf für ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, den die Grünen-Fraktion in den Bundestag eingebracht hatte, hat sie unterstützt – während Angela Merkel doch zuvor angekündigt hatte, in dieser Frage nicht mehr tun zu wollen, als die EU-Richtlinien zwingend vorschreiben.
In Wilhelmshaven plädiert sie erst einmal für kostenfreie Kitas mit Essen und dafür, „mindestens das letzte Jahr“, also die Vorschulzeit, „zu einer Art Pflicht zu machen“. Gerade noch hat sie sich die Arbeitsweise der Einrichtung erklären lassen, mit Eltern gesprochen und mit den Kleinen geklönt. Und mit Vereinsvorstand und pädagogischer und therapeutischer Leiterin die Situation erörtert.
Aus den Notizen, die sie sich dabei gemacht hat, improvisiert sie jetzt eine Pressekonferenz für die lokalen Medien. Aber auch, so sieht’s zumindest aus, um die eigene Position zu finden und zu festigen: Bei ihrem Kommuniqué lotet sie die Grenzen ihres Amtes aus und checkt die Gefahr ab, in kommunale Belange hineinzuregieren. „Bildung ist Ländersache“, ruft sie sich plötzlich das alte Föderalismus-Mantra in Erinnerung, weil sie, während sie eine Vision von der Behinderten-Politik als „gesamtgesellschaftlicher Aufgabe“ skizziert, eben auch dort auf die Notwendigkeit einheitlicher Standards im Bildungswesen gestoßen ist. Und irgendwann merkt sie, dass sie etwas mit den Abrechnungssystemen von Kranken- und Sozialkassen durcheinander bringt und fordert auf, sie zu korrigieren, falls sie denn Blödsinn erzähle.
Nachher, im Auto auf dem Weg zum Wahlkreisbüro, sagt sie, die Augen durchs Wedeln der Scheibenwischer hindurch auf die Straße geheftet, man spreche „nicht umsonst von Behinderten als Experten in eigener Sache“. Und dadurch würden solche Ortstermine so wichtig für sie. „Ich muss auch eine Expertin werden.“ Sie scheint auf einem guten Weg.