: Die Mutter aller Skandalfilme
■ Einst erregte Oshimas Im Reich der Sinne eine ganze Generation von Staatsanwälten: Heute lässt sich an ihm der Punktestand in der Pornografie-Debatte neu überdenken
Nichts gehört inzwischen mehr ins Reich der Langeweile als das épater le bourgeois, mit dem die historischen Avantgarden einst angetreten waren, dem Politischen, und damit: Dem Privaten, in den Künsten einen Raum zu eröffnen. Könnte man glauben.
Vor einigen Wochen nämlich strahlte der deutsch-französische Sender arte eine Reihe mit sogenannten „Skandalfilmen“ aus. Gewiss, ein Thema, das eigentlich nur noch von Interesse für all jene sein dürfte, die sich die Erforschung der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht haben. Denn dass mit der Darstellung des Sexuellen noch Punkte im Kampf um gesellschaftliche Emanzipation gemacht werden könnten, glauben in Zeiten des Schmuddeltalks und der narzis-tisch-repressiven Entsublimierung nicht einmal mehr die Naivsten. Und doch ging nach Austrahlung von Borowczyks La Bête bei der Hamburger Staatsanwaltschaft eine Anzeige wegen Verbreitung pornografischen Materials ein.
Und auch an anderer Stelle, im europäischen Art-House-Kino, erlebte der anti-bürgerliche Schock in letzter Zeit eine seltsame Renaissance: Lars von Trier, Francois Ozon, oder Catherine Breillat, die für Romance gar den italienischen Porno-Star Rocco Siffredi castete, forderten alle gleichermaßen die Zensoren heraus, indem sie jene juristischen Grenzen noch weiter überschritten, die gemeinhin „Kunst“ und „Pornografie“ trennen.
Eine der entscheidenden Wegmarken dieser die Gemüter erregenden Debatte war, neben Pasolinis Salò, Nagisa Oshimas Im Reich der Sinne (1976), an dem sich nun noch einmal deren Einsätze überprüfen lassen. Während Pasolinis de-Sade-Verfilmung den Triebcharakter des Faschismus herausstellt und dem Glauben an die subversive Kraft der Lust ernüchtert abschwört, zeigt Oshima ein letztes verzweifeltes Aufbegehren der Leiber, das seine Reinheit nur im Tod bewahren kann. Wie Noburo Tanakas ein Jahr früher entstandener Abe Sada basiert Oshimas aus der Perspektive seiner weiblichen Heldin erzählter Film auf der realen Lebensgeschichte der Geisha Abe Sada, die sich in in den verheirateten Kichizo verliebte.
Am Vorabend der Faschisierung des Landes, die Truppen marschieren bereits, verbarrikadieren sich die beiden in einem Bordell, provozieren die Verachtung der Gesellschaft, der sie doch nichts als ein verzweifeltes Nein zu entgegnen hätten, und verlieren – von Oshima kinematografisch virtuos inszeniert – jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Anfangs nennt Abe Sada Kichizo noch „Meister“, in der zweiten Hälfte des auf der Berlinale einst beschlagnahmten Films, wird sie zur dominanten Partnerin, die in der japanischen Originalfassung sogar eine Sprache spricht, die sonst nur Männern vorbehalten ist.
Die mehrere Wochen obsessiv andauernde Sex-Session, die aber auch gar nichts mit den quietschenden Betten und prallen Dirndln aus dem RTL-Nachtprogramm gemein hat, entwickelt sich zunehmend zur Reise ans Ende der Nacht. Auf seinen Wunsch hin stranguliert und kastriert Abe ihren Liebhaber in einem ekstatischen letzten Akt, weil er für immer mit ihr vereinigt bleiben will. Mehr mit Bataille und Artaud als mit Russ Meyer hat dieses Ideal der Hingabe und männlich-masochistischen Passivität zu tun. Im Reich der Sinne ist dabei sicher nicht frei von Phallokratismus, an ihm lässt sich aber, wie die feministische Filmwissenschaftlerin Getrud Koch in einer flammenden Verteidigungsrede damals schrieb, „nicht nur viel über Sexualität und Geschlechter lernen“, sondern eben auch, „was ein erotischer Film ist.“ Tobias Nagl
Abaton: Do, 23.3., 22.30 Uhr + Fr., 24.3. 17 Uhr 3001: Fr, 24.3., 22.30 Uhr + Sa, 25.3., 18.15 Uhr Zeise: So, 26.3., 11 Uhr + Mi, 29.3., 22.45 Uhr
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