piwik no script img

Die Monarchie in der Arbeiterbewegung

Auf dem IG-Chemie-Gewerkschaftstag läuft alles wie geschmiert / Der letzte Linke im Hauptvorstand ist abgetreten  ■  Aus Karlsruhe Martin Kempe

Während sich die übrigen Vorstandsmitglieder ins Parkett zurückgezogen hatten, blieb Werner Vitt, der stellvertretende Vorsitzende der IG Chemie, oben auf dem Podium allein. Die Kandidaten machten sich während der Vorstandswahl mit den Delegierten gemein, so verlangt es die demokratische Sitte auch in der IG Chemie. Aber Werner Vitt, ein Gewerkschafter der ersten Stunde, blieb noch eine Stunde dort oben sitzen, links und rechts die leere Stuhlreihe, so einsam, wie er wohl seit Jahren in diesem Vorstand gewesen ist. Es waren seine letzten Augenblicke im Spitzengremium der IG Chemie, bevor er seinen Stuhl für immer räumte und nun in den Ruhestand geht.

Mit Werner Vitt ist eine der letzten Symbolfiguren der traditionellen Gewerkschaftslinken aus der aktiven Arbeit verschwunden. Er war der einzig verbliebene Linke im Geschäftsführenden Hauptvorstand der IG Chemie, der gleichwohl mit schier grenzenloser Organisationsloyalität schweigend hingenommen hat, wie die zweitgrößte Industriegewerkschaft im DGB zur rechtssozialdemokratischen Richtungsgewerkschaft getrimmt wurde. Seit 1980 die Gewerkschaftslinke der IG Chemie mit allen Mitteln des innerorganisatorischen Machtkampfs ausgeschaltet wurde, hat Vitt in stiller Selbstverleugnung sein Amt ausgefüllt.

Das Feld beherrscht nun unangefochten Hermann Rappe, der mit unermüdlicher Leidenschaft wahlweise auf die DKP -Kommunisten oder die Grünen einprügelt. Ausgerechnet aus dem Munde eines südafrikanischen Gewerkschafters kam die Parole, der die Delegierten am Mittwoch in heiteren Beifall ausbrechen ließ: „Viva Hermann Rappe“, rief der farbige Südafrikaner zum Schluß seiner Rede und schwenkte den weißen Umschlag mit der 10.000 Mark Solidaritätsspende, den ihm Rappe in die Hand gedrückt hatte. „Viva Hermann Rappe“, meinten auch die Delegierten, als sie den Herrscher über die rund 700 hauptamtlichen Funktionäre der Chemie-Gewerkschaft mit 83prozentiger Mehrheit für weitere vier Jahre zum Vorsitzenden wählten. Ein DGB-Funktionär am Rande des Kongresses: „Die IG Chemie ist die letzte Monarchie innerhalb der Arbeiterbewegung.“

Es läuft - nach einer flüchtigen Irritation aufgrund des Rausschmisses der Boehringer-Vertrauensleute - alles wie geschmiert. Diese Gewerkschaft kann sich ohne Risiko den Luxus leisten, ihren Kongreß erst morgens um halb zehn beginnen zu lassen. Undenkbar, daß die Delegierten wegen heftiger Kontroversen morgens oder abends Überstunden absitzen müßten. Hier ist schon alles entschieden, bevor es auf die Tagesordnung kommt. Die politischen Signale wurden nicht in den Diskussionen der letzten Tage, sondern in der Eröffnungsveranstaltung gesetzt, als Bundeskanzler Kohl und Wirtschaftsminister Bangemann den IG-Chemie-Chef für seine Kooperationsbereitschaft loben durften. „Vernunft und Augenmaß“ - die Banalität der Selbstanpreisung Rappes hat Kohlsches Format, wird aber von den Delegierten geschluckt. Auch sie, das ist klar, wollen den industriellen Konflikt nicht.

„Wir sind eben anders“, - so begründete Veronika Keller -Lauscher, im Vorstand für Frauen zuständig, warum die IG -Chemie-Frauen von einer Quotierung in ihrer Organisation nichts wissen wollen - trotz aller Quotierungsbeschlüsse der SPD. Nicht nur die IG-Chemie-Frauen sind anders. Die ganze IG Chemie ist anders als die übrigen DGB-Gewerkschaften. Eine Modernisierungsstrategie, wie sie von der IG Metall verfolgt wird und die auch eine Öffnung zu den neuen sozialen Bewegungen einschließt, ist hier kaum absehbar. Der alte Linke Werner Vitt ist ausgeschieden, bescheiden und wortlos bis zum Schluß. Eine neue Linke hat bis auf weiteres keine Köpfe und keine Chance - es sei denn, sie hält sich bedeckt. Dies nicht beachtet zu haben wurde den Boehringer -Vertrauensleuten zum Verhängnis.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen