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Die Liebe zum Sehen

■ „Die Stuttgarter Schule“, West 3, 22.30 Uhr

Manchmal wirken Dokumentarfilme wie blind. Die Kamera läuft mit verbundenen Augen umher und läßt sich von Augen-Zeugen erzählen, was sie eigentlich selbst aufnehmen könnte, wenn sie nur hinsehen würde. Doch das Wort ist gewaltiger als das Bild, und so tut es dem Bild Gewalt an.

Daß es auch einmal anders ging, daran erinnern Alexander Kluge und Meinhard Prill in ihrem Film über die Abteilung „Dokumentarfilm“ des Süddeutschen Rundfunks. Hier lernte der Dokumnentarfilm das Sehen, um es gleich wieder zu vergessen. Eigentlich ist es der unzulänglichen Technik zu verdanken, daß sich in Stuttgart eine Schule des Dokumentarfilms entwickelte. Denn die 16mm-Kameras waren anfangs nicht für Tonaufnahmen konstruiert und ließen keinen Synchronton zu; deshalb wurden „einfach Bilder gemacht“, wie ein Kameramann die frühen Tage beschreibt.

Neben vielen bekannten Autoren wie Roman Brodmann ist es auch dem Engagement von Martin Walser, der der Dokumentarfilm-Redaktion als Berater zur Seite stand, zu verdanken, daß in Stuttgart eine Ausdrucksform entstand, die sich zwar der dramaturgischen Mittel der NS- Wochenschauen bediente, sie aber nicht propagandistisch, sondern aufklärerisch zu nutzen verstand. Prill und Kluge unterstreichen den vorbildlichen Charakter der Einrichtung mit vielen Bildbeispielen, darunter der „Polizeistaatsbesuch“ von Roman Brodmann und ein Porträt über Thomas Mann.

In ihrer Euphorie über die Bildersprache dieser Filme vergessen sie jedoch ganz, den anschließenden Bruch und die Entwicklung zu wortlastigen Beiträgen zu verfolgen. „Das Beste an der ARD sind ihre Anfänge“, heißt es im Untertitel, und so bekommen wir von den damals Beteiligten viel von den goldenen Zeiten zu hören und ein allgemeines Jammern über den jetzigen Zustand des Dokumentarfilms.

Wie es dazu kam, daß dem Dokumentarfilm wieder die Binde vor die Augen fiel, woran es liegt, daß es trotz dieser Tendenz inzwischen einen hohen Standard gibt, den viele der gezeigten Beispiele heute nur schwer erreichen würden, erfahren wir nicht.

Doch dieser Ausflug in die Pionierzeit des dokumentarischen Prinzips fürs Fernsehen ist spannend und interessant, weil es Kluge und Prill gelingt, viel von der Atmosphäre jener Jahre einzufangen und die Geschichte einer Liebe zum Sehen zu entfalten, die es wiederzuentdecken gilt. Auch wenn die Zeiten ein für allemal vorbei sind, daß ein Thomas Mann sich beim Publikum für die Aufmerksamkeit via Bildschirm mit einem Stück Kuchen und einem Glas Portwein bedanken will. Christof Boy

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