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„Die Leute gingen ganz spontan auf die Straße“

Die Pekinger Studentin Fan Li über die erste Nacht des Widerstands / In der ersten Reihe vor den Soldaten  ■ I N T E R V I E W

Unser Mitarbeiter in Peking, Reinhold Wandel, hatte jetzt Gelegenheit, mit einer Studentin zu reden, die die erste Nacht nach Ausrufung des Kriegsrechts in Peking miterlebt hat. Die 20jährige Fan Li (das Pseudonym heißt „Gegen Li“) ist Studentin der Volksuniversität.

taz: Wo warst du in der Nacht zum Sonntag?

Fan Li: Ich bin mit einigen Kommilitonen um acht Uhr abends mit dem Fahrrad losgefahren nach Wajiaocon bei Shijingshan, weil wir hörten, daß dort Soldaten kämen.

Wie war die Situation dort?

Es waren schon viele Leute da, vielleicht 2.000, und hatten die Armee-Laster umringt. Es waren vielleicht 80 Lastwagen. Die Leute diskutierten mit den Soldaten.

Was sagten die Studenten den Soldaten?

Wenn die Studenten in den Hungerstreik treten, dann tun sie das nicht für sich selbst, sondern für das Volk, für China. Die meisten Leute leben schlecht, die hohen Kader leben sehr gut. Sie sind korrupt. Wollt ihr deren Privilegien und krummen Geschäfte verteidigen? Wenn ihr gekommen seid, um hier Ordnung zu schaffen, könnt ihr wieder gehen, es ist alles in Ordnung.

Wie reagierten die Soldaten?

Einige waren sehr stur, andere Soldaten sagten leise, daß sie auch auf der Seite des Volkes stehen, aber sie seien eben Soldaten, sie müßten Befehle ausführen. Ich glaube, die meisten von ihnen dachten wohl so.

Versuchten die Soldaten vorzurücken?

Ja. Als wir diskutierten, standen plötzlich vier Soldaten auf, sprangen von den Fahrzeugen, einige versuchten sich einen Weg zu bahnen mit dem Gewehr in der Hand.

Waren die Gewehre auf euch gerichtet?

Nein, nie. Die Gewehre zeigten immer nach oben. Sie versuchten nur, uns mit den Gewehren zurückzudrängen. Die Studenten riefen den Leuten zu: Sollen wir die Armee durchlassen? Aber alle schrieen nein. Wir standen dann Arm in Arm, und in den ersten Reihen standen meistens Studenten. Die Soldaten drückten nach vorne, kamen aber nicht weiter. Als sie den Versuch aufgaben, setzten sich alle auf die Straße, außer den Soldaten. Als die Soldaten wieder losgehen wollten, standen auch die Leute wieder auf. Ich war in der vorderen Reihe, und man sagte mir dann, ich sollte weiter nach hinten gehen, weil ich als Frau nicht so stark wäre. Es waren auch viele Arbeiter vom Pekinger Stahlkombinat da, vor allem, als es auf die Morgendämmerung zuging, weil man Angst hatte, die Armee würde doch noch loslegen.

Wie handelten die Offiziere?

Um zwei Uhr nachts versuchten Soldaten noch einmal vorzurücken, weil ein Offizier noch einmal einen Befehl gegeben hatte. Der Offizier war etwa 50 Jahre alt, er muß einen ziemlich hohen Rang haben. Die Leute waren sehr böse auf ihn, einige haben ihn auch fotografiert. Einige Soldaten waren so durcheinander, daß sie geweint haben. Sie waren sehr jung, sie waren in ihren Gefühlen völlig verunsichert.

Glaubst du, daß die Armee mit Widerstand gerechnet hatte?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die waren völlig unvorbereitet.

Haben Studenten den Widerstand organisiert?

Nein. Die Leute gingen spontan auf die Straße, sie haben das Militär spontan daran gehindert weiterzufahren. Da gab es keine Koordination von irgendeiner Seite. Das war da, einfach so.

Interview: Reinhold Wandel

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