berliner szenen: Die Kuh fliegt
Leichter, freier
Zu dieser Love Parade geht’s noch mal rund, denn es ist – wenn man Gerüchten glauben mag – die vielleicht letzte. Die Zuschauerzahlen sinken, und einige Teilnehmer drohen damit, im nächsten Jahr eine eigene Parade anzumelden. Ob das klappt, weiß niemand. Daher ist es für alle späten Mitläufer höchste Zeit, noch schnell etwas Ruhm abzuholen. Gunther von Hagens zum Beispiel: Er lässt einige der von ihm plastinierten Leichen aus seiner „Körperwelten“-Show auf einem Love-Parade-Wagen mitfahren. Die Ausstellung hat derweil am Wochenende über 24 Stunden geöffnet. So beweist der Plastineur, dass er die ihm übergebenen Leichen inzwischen als Eigentum betrachtet, als sein künstlerisches Werk, mit dem der Schöpfer macht, was er will.
Göttlich gibt sich auch Flatz, der Spektakelkünstler, der am Donnerstag eine gehäutete Kuh aus 40 Meter Höhe in eine Baugrube werfen ließ. Als sie aufschlug, gab es ein Feuerwerk. Flatzens Band spielte das Stück „Fleisch“. Der Künstler selbst hing dazu nackt und blutend an einem Baukran. Die Aktion wurde u. a. von Zigaretten- und Bierherstellern gesponsert. Irgendetwas wollte Flatz damit vermutlich aussagen, und irgendwelche Leute holten sich dabei sicher auch einen Kitzel ab.
Ich saß unterdessen mit Werner, Tatjana und Tim auf dem Balkon im 17. Stock eines Hochhauses. Wir blickten über die Stadt, es war umwerfend: Von oben sieht Berlin wie eine Großstadt aus, nicht wie eine große Kleinstadt. Dann sahen wir einen Hubschrauber träg aufsteigen, für uns war er groß wie ein Insekt. Etwas fiel von ihm ab, er war nun leichter, freier und flog rasch davon. Das war’s gewesen, die Kuh war unten. Vom 17. Stock sieht alles ganz klein aus. Auch Gernekünstler, die sich groß machen. JÖRG SUNDERMEIER
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