: Die Kriegskinder dieser Welt
■ „Auf fremden Beinen stehen“, West 3, um 20 Uhr
Wieder einmal ist der erste Blick nicht verläßlich, vor allem solange er oberflächlich bleibt. Kinder, eine Schar fröhlicher Kinder, die am Rain eines Ackers entlang spazierengehen — tobend und ausgelassen, so scheint es. Erst nach und nach schiebt sich eine Unschärfe in dieses lebensfrohe Bild, und dann wird die Irritation in der Wahrnehmung zur Gewißheit. Viele der Kinder stützen sich auf Krücken ab und kommen nur Schritt für Schritt voran, einige sitzen im Rollstuhl und werden von Pflegern geschoben, Daß sie dabei lachen und Spaß haben, verleiht der Szenerie noch mehr Traurigkeit.
Klaus Antes porträtiert mit seinem Film Auf fremden Beinen stehen die Kriegskinder dieser Welt — eine schwierige Annäherung. Mehr noch als die körperlichen Schäden, die die Kinder aus Vietnam und Afghanistan davongetragen haben, schmerzen die seelischen Verwundungen, der Verlust der Familie, die Trennung von ihrer Heimat. Im Friedensdorf Oberhausen haben sie eine Chance, von ihren Granatsplitterwunden, Beinamputationen und Knochenentzündungen zu genesen, ohne der Gefahr von neuen Angriffen ausgesetzt zu sein.
So wie der Zuschauer an die ersten Bilder der beinamputierten Opfer tastet sich auch die Kamera sehr langsam heran, als wolle sie sich sträuben angesichts der tristen Wirklichkeit. Dem Kameramann Günther Handwerker gelingt es, uns an die Kinder heranzuführen, ohne falsche Vertrautheit zu heucheln. Von Beginn an nimmt der Film den Zuschauer mit auf eine Reise, die vom Erschrecken vor den Verkrüppelungen, über das beklemmende Gefühl des leichten Abgestoßenseins erst allmählich in Mitleid für die Kinder und Wut über die zynische Haltung der Kriegsführenden umschlägt.
Die Distanz, die Handwerker mit langen Brennweiten und Einstellungen, welche häufig nur schmale Durchblicke in die Kinderzimmer und Massageräume gewähren, baut sich nach und nach ab und bringt uns so viel näher an die Kinder als ein unglaubwürdiges, weil abschätziges Anbiedern von der ersten Minute an.
Der gemächliche, tastende Blick macht uns auch bewußt, wie verändert die Sehgewohnheiten bereits sind. Schon nach wenigen Einstellungen vermißt man den Kommentar des Autors, die gewohnte Prozedur, die alles erklärt und nichts, weil sie den Bildern nicht traut. Derart eingelullt von der täglichen Beflissenheit anderer Beiträge reift beim Anblick dieses Films die Erkenntnis, daß Klaus Antes' Art des Erzählens viel einprägender ist als ein zugetexteter Bilderteppich, der vor allem eines bewirkt: den Zuschauer vorm eigenen Nachdenken bewahrt.
Was hier zählt, sind die Bilder, und die sprechen für sich. Den einbeinigen Jungen, der beim Fußballspiel den Ball nur treffen kann, indem er sich auf die Krücken stützt und dann mit dem gesunden Bein schießt, hat Klaus Antes hinter das Gitter des Fußballfeldes gestellt. Das Kind, gefangen in den Zwängen, die sie von der Erwachsenenwelt aufgebürdet bekommen. Treffender — und das im doppelten Wortsinn — läßt es sich nicht darstellen. Christof Boy
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