: Die Kiwi-Zloty-Connection
■ Kiloweise Leben: Dallas trifft Poznan, Sphia trifft Königswusterhausen, Wedding trifft Warszawa... - am Polenmarkt mitten in Berlin / Der Mikrokosmos betrachtet aus 1,50 Meter Höhe: Die einen kommen aus Not, die anderen aus der Freude am Handeln und Gucken
Rudi steht, was den Polenmarkt betrifft, ein paar Zentimeter über den Dingen. Einen Meter fünfzig, um genau zu sein. Seit dem frühen Morgen teilt er von der Ladefläche seines Hängers direkt an der Bernburger Straße Orangen und Kiwis aus. Nicht umsonst - drei Kilo Orangen kosten vier Mark, das Kilo Kiwifrüchte ebenfalls. Die Kundschaft ist zunehmend international, türkisch, deutsch-Ost, deutsch-West, polnisch, vietnamesisch, russisch oder, wie in den letzten zwei Wochen, bulgarisch. „Da war ein ganzes Dorf hier gewesen.“ Zahlen und Fruchtsorten kann Rudi ziemlich flüssig auf polnisch herunterbeten. Was sonst an Kommunikation anfällt, übernimmt sein Kompagnon. Michail, genannt Michi, vor 14 Jahren aus der Sowjetunion ausgewandert, beherrscht neben seiner Muttersprache und Deutsch auch genügend Türkisch, Polnisch und Bulgarisch, weil er „eben 'ne Naturbegabung“ ist. Rudi und Michail pures Gewinnstreben zu unterstellen, wäre ungerecht. Die beiden verstehen ihren schwunghaften Obsthandel als Zeichen des Protestes. Wenn die Kleinhändler ohne Standgebühr oder Gewerbesteuer Vasen, Angelzeug, Zigaretten oder Wodka verkaufen, dann dürfen Rudi und Michail, die im bürgerlichen Leben einen Blumengroßhandel betreiben, wenigstens Vitamine anbieten. Soviel egalitäres Bewußtsein hat ihnen seit November mehrere Anzeigen und immer wieder Ärger mit den Polizeistreifen eingebracht. Dreimal waren sie beim Bezirksamt Tiergarten, um eine Genehmigung für ihren Obstverkauf zu bekommen - ohne Erfolg. Vor zwei Wochen, anläßlich einer CDU-Demo gegen den Polenmarkt, sind Rudi und Michail mit einigen Christdemokraten aneinandergeraten, „weil die meinen, es sei eine Schweinerei, wenn wir hier den Polenmarkt mitstützen.“
Über den Platz haben sich nach dem Motto „Gleiches Recht für alle“ ein halbes Dutzend weiterer Lastwagen und Hänger verteilt. Kebap und Cevapcici wird verkauft, die Tische vor der fahrbaren Hähnchenbraterei sehen mangels Abfalleimer wie ein riesiger Broilerfriedhof aus. Die Ursachen dieses Vielvölkerbazars sehen die beiden Obsthändler ziemlich nüchtern: blanke Not der einen und die Lust der anderen an der Gewinnspanne bringen die Leute zusammen. Das ist weder zu ändern noch zu unterbinden - und was man nicht unterbinden kann, soll man wenigstens anständig organisieren, findet Rudi. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Müll. Zu wenige Mülltonnen aufzustellen und dann behaupten, die Polen seien dreckig, ärgert ihn. Die große Dreckpfütze in der Mitte des Platzes hätte man schon längst mit einer Ladung Kies zuschütten können.
An den Türen des Hängers sind nicht nur die Preise für das Obst angepinnt, sondern auch die Adresse der polnischen Militärmission. Rudi und Michail haben sich eine feste Stammkundschaft aufgebaut - der Hänger ist nicht nur Verkaufsstand, sondern auch Kummerkasten. Hier werden verlorengegangene Kinder abgegeben. Hier empören sich die Leute aus Warschau, Poznan, Wroclaw, Prag oder Bukarest über stundenlange Fahrten in überfüllten Zügen und Bussen, über schikanöse Zollkontrollen polnischer oder deutscher Beamter oder über die Berliner Praxis, ertappten Händlern buchstäblich alles abzunehmen: die Reisepässe, Geld und Waren. Wer Freitag geschnappt wird, bekommt den Paß erst Montag wieder und muß sich ohne Geld, Adressen drei Nächte durchschlagen. Soll wohl abschreckend sein, schlußfolgert Rudi, „aber was die manchmal mit den Leuten machen, ist schlimmer als Tierquälerei.“
Nach über fünf Monaten Wochenendschicht auf dem Polenmarkt „aus Protest“ kennen die beiden den ökonomischen Mikrokosmos zwischen Müll, M-Bahn und Mauer wie ihre Westentasche: die Hütchenspieler, die DDRlern und Polen die Hundertmarkscheine abknöpfen; die Jugendlichen, die einen Strumpf voll Zlotymünzen kaufen - zum Zigarettenziehen oder Flippern; die Taschendiebe, von denen Michail am Tage „mindestens zehn hochnehmen könnte„; die Studenten aus der VRChina, die mit ihrem Verkauf von Balsam und Chinaöl ein bißchen Apothekenflair verbreiten. „Ich könnte längst ein Buch schreiben über den Polenmarkt“, sagt Rudi, der Obstverkäufer, und kassiert vier Mark für drei Kilo Orangen.
Ein eigenes Kapitel wäre dem Kundenkreis unter den westlichen Schutzmächten zu widmen. Der wächst rapide, seit auf dem Polenmarkt Uniformen aus den Vorräten des Warschauer Paktes gehandelt werden. Für sieben Mark hat ein GI ein Hemd mit Schulterstücken erstanden. Ob darin ein polnischer, ungarischer oder russischer Kollege gesteckt hat, ist ihm egal, „Hauptsache kommunistisch“, meint er. Damit zu Hause keiner sagen kann, er hätte keine Feindberührung gehabt.
Andrea Böhm
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