piwik no script img

Die Kirche ersetzt die SPD, zumindest an der Basis Von Christiane Grefe

„Der evangelischen Kirche läuft das Volk weg. Um ihre politische Rolle nicht zu verlieren, setzt sie immer mehr auf die Sozialdemokraten.“

„Focus“, 1. 4. 96

„Talk im Turm“ guckt ja wohl fast jeder. Offenbar auch der Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier. Der mußte jedenfalls gerade in Focus sein Zuschauerschweigen brechen, voller Empörung über einen protestantischen Präses, Peter Beier. Der hatte bei Erich Böhme die Ansicht vertreten, der Sozialismus sei und bleibe nach wie vor „die Hoffnung der Armen“ – welch ein Satz! Für Besier ist er eines der vielen Indizien, daß sich evangelische Kirche und SPD zur „Staatskirche durch die Hintertür“ zusammenmauscheln. Den SPD-Politiker, der noch laut „Sozialismus“ sage, möchte ich zwar erst mal sehen. Doch: „Der Filz von Politik und Kirche“, schreibt Besier, „kennzeichnet die ideologische Abhängigkeit des deutschen Protestantismus von politischen Visionen und verweist auf seine innere Schwäche.“

Auch die daneben gedruckte Porträtgalerie von SPD-Kirchen- Doppelmitgliedern macht Besiers Verschwörungstheorie nicht plausibler: Ebensogut wie den EKD- Synodalen und früheren Justizminister Jürgen Schmude hätte man etwa den in kirchlichen Gremien engagierten CDU-Protestanten Richard von Weizsäcker ablichten können. Von der katholischen CSU-Kirchen-Connection mal ganz abgesehen. Der Streit um das Schulfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ in Brandenburg demonstriert endgültig, daß der vermeintliche Staatskirchenfilz nur der Paranoia eines auf DDR-Kritik spezialisierten, besser: fixierten Professors entspringt. In Potsdam laufen ja die Protestanten Sturm gegen Stolpe, weil dessen Regierung ihnen das Monopol auf Religionsunterricht wegnehmen will.

Tatsächlich zielt die Focus-Attacke auch auf ganz anderes, auf eine Kirche, die bis in ihre höheren Etagen hinein aufgewacht ist und sich – endlich wieder! – als moralische Instanz politisch zu Wort meldet. Mal vorsichtiger, aber oft heftig kritisieren ihre Mitglieder und Funktionsträger die totale Ökonomisierung des Lebens, einen Kapitalismus ohne Grenzen, die wachsende Armut und soziale Ungleichheit – damit kaum verhohlen auch die Bundesregierung. Das „Sozialpapier“, das beide Kirchen gemeinsam entworfen haben, wird seit über einem Jahr öffentlich diskutiert. Wohl im Herbst soll eine neue, Tausende von Stellungnahmen einbeziehende Fassung für weitere unbequeme Debatten sorgen und für praktische Folgen.

Besier und München wünschen sich statt dessen ein wohliges, ungestörtes, ganz privates Ommmh: Fröhliche Ostern und innere Einkehr mit Leo Kirchs Bibelverfilmungsschinken, eine Seelsorge jedenfalls, die sich um die letzten Dinge kümmert, nicht um die vorletzten. Zu den „immer brutaleren Marktregeln“ aber sollten die Kirchen nach dieser Auffassung, kritisiert der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, wohl nur noch „die moralische Begleitmusik spielen“. Und der bayerische Landesbischof Hermann von Loewenich wehrte den alten, falschen und nun wirklich staatstragend aufgebauten Gegensatz zwischen Theologie und Praxis in der Münchener Abendzeitung ab: „Daß wir den Himmel übernehmen sollen und die Politik die Erde, das habe ich im Dritten Reich schon mal gehört.“

Mich jedenfalls, so ein typisch halb engagiertes, halb säkulares Mitglied, überzeugt die Kirche erst wieder, seitdem sie wieder konfliktbereit und offensiv auf Gerechtigkeit besteht – wenigstens danach fragt. Die neue Konfliktbereitschaft hat auch viele meiner Freunde positiv irritiert, Leute, mit denen ich mich, weil ich immer noch „drin“ bin, oft in nächtelange Küchentischstreitereien verwickelt finde, attackiert von der Focus entgegengesetzten Seite. Und dann ist die Hölle los: Die sind nämlich alle aus der Kirche ausgetreten, weil sie ihnen zu harmoniesüchtig ist oder zu „pc“. „Denk doch an die Popen im Nationalsozialismus!“ sagen sie; „an das Frauenbild! Die vom Staat eingezogene Pflichtsteuer!“ Die Kirche als Konzern und stinkreichen Immobilienbesitzer, der es auch nicht besser als andere treibt! Und die humorlosen, schrecklich klampfenden Schafe mit lila Halstüchern und widerspruchsfreien Ökopriester- Schrägstrich-Innen! Und dann packen sie den Katholizismus gleich noch mit in die Watschenrunde: Abtreibung, Pille, Papst, offene Fragen zu ihrer Rolle im Bosnienkrieg.

Einspruch stattgegeben, in fast allen Punkten. Aber ich bleib' trotzdem drin. Denn Institutionen zu verlassen heißt auch, Einfluß aufzugeben und den Pluralismus in ihnen. Vor allem aber riskiert man, daß an ihre Stelle nicht etwa Neues tritt, sondern am Ende gar nichts. Und es sind nun mal immer wieder die Kirchen, zumindest Gruppen darin, die sich persönlich und öffentlich auch unbequeme soziale Konfrontation zumuten. Neuerdings immer konkurrenzloser.

In Tim Robbins großartigem Film „Dead Man Walking“, der morgen in die Kinos kommt, ist mir das wieder mal klargeworden. Das ist die Geschichte einer Frau in den USA, einer Nonne, die sich um einen Todeskandidaten kümmert. Zufällig, weil er gerade sie darum bat. Sie tut das für einen Mann, den sie vorher nicht kannte, und der ist auch kein unschuldiger, gut aussehender netter Kerl, sondern ein Ekelpaket. Auch mein von Kitschangst geprägter erster Gedanke im Kino war: „Muß das sein?!“ Doch die Geschichte ist authentisch, es gibt Helen Prejeau. Und wie viele andere Menschen würden sich freiwillig und ohne aufzugeben in so eine Verantwortung begeben?

Die Todesstrafe ist der Extremfall. Und natürlich gibt es viele andere moralische Überzeugungen als die christliche, damit auch andere Motivationen, sich für Menschen in schwieriger Lage zu engagieren. Trotzdem: Auch hierzulande sind es vor allem von der Kirche unterstützte Gruppen, die beispielsweise den Mut und die Frustrationstoleranz aufbringen, Strafgefangene zu besuchen. Dafür lohnt es sich, unter anderem Kirchensteuer zu zahlen. Auch für epd-Entwicklungspolitik oder Der Überblick, kritische, auch selbstkritische Mediendienste über die Probleme der armen Länder, die sonst keine Sau mehr thematisiert. Für Pfarrer, die Asylbewerber im Keller verstecken. Für Frauen, die in der „Mitternachtsmission“ illegal eingeschleppten Prostituierten helfen. Für Obdachlosenberatung. Oder für kirchliche „Industrie- und Sozialarbeit“. Alles in der Spaßgesellschaft mit dem Risiko von „Hohn und Häme“ behaftet, Häme einerseits von den Gutmenschenkritikern – und auf der anderen von den Besiers, die nur noch in Markt- und Marketingkategorien zu analysieren verstehen.

Auch die SPD ist doch immer weniger bereit, sich unzweideutig und praktisch auf die Seite der sozial Schwachen zu schlagen, vor lauter Angst, sie bräche sich einen Zacken aus der Regierungsfähigkeitskrone. Besiers absurder Filztheorie halte ich also entgegen, daß die Kirche die Sozialdemokratie nicht benutzt, sondern, zumindest an der Basis, eher ersetzt.

Ein schönes Beispiel für den Distanzbedarf der SPD zu den niederen Ständen bot doch gerade wieder Klaus von Dohnanyi, Hamburgs früherer Bürgermeister. Er mußte einfach seinem Ekel vor dem unflexiblen deutschen Arbeiter Luft machen! Dieser war ihm bei „Talk im Turm“ in Gestalt eines Herrn Froschauer erschienen und hatte, verbunden mit heftiger Kritik an den Parteien, geschildert, wie er mit seinem ganz normalen Facharbeiterlohn so gerade mal eben noch über die Runden komme – aber auch nur, wenn nicht etwa ein Krankheitsfall geschehe. Doch Moment mal: „Zu dick und schwerfällig“ habe dieser „trotzig-barocke“ Mann da gesessen, fand von Dohnanyi in der FAZ. Und so „widersprach schon Froschauers Anblick seinen Argumenten“. Wer's glaubt, wird selig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen