: Die Katastrophe von Borken
■ Nach der Explosion im Braunkohlebergwerk besteht kaum noch Hoffnung für die verschütteten Bergarbeiter
Die Katastrophe von Borken
Nach der Explosion im Braunkohlebergwerk besteht kaum noch Hoffnung für die verschütteten Bergarbeiter
Nach dem Explosionsunglück im hessischen Bergwerk Borken gab es gestern keine Hoffnung mehr für die 57 verschütteten Bergleute. Über die Ursachen der Katastrophe, die in Sekundenschnelle den Schacht zusammenstürzen ließ, gibt es bisher keine gesicherten Aussagen. Sicher ist dagegen, daß dieses bisher schwerste Unglück im Braunkohlebergbau das vorzeitige Ende des gesamten Werkes bedeutet, das 1993 ohnehin still gelegt werden sollte.
Borken (taz) - Stummes Entsetzen, Trauer und die ungewisse, immer geringer werdende Hoffnung sind die Gefühle, die den Schauplatz der Explosion im nordhessischen Kohlebergwerk Stolzenbach überlagern.
Während eigens aus Essen eingeflogene Spezialisten einer Grubenwehr gemeinsam mit den Rettungstrupps pausenlos im Einsatz sind, spielen sich vor dem Werk ergreifende Szenen ab.
Angehörige, die von Polizei und Sanitätern vor den aufdringlichen Fragen der angereisten Journalisten geschützt werden müssen, sitzen im Besprechungsraum des Werkes, warten dort und hoffen, daß die Befürchtungen nicht zur Gewißheit werden. Von Zeit zu Zeit kommen einige Angehörige der Verschütteten hinaus ins Freie, um aufeinander gestützt wenigstens ein paar Schritte zu tun und Luft zu holen, doch dann prasselt sofort ein Blitzlichtgewitter auf sie nieder, ausgelöst von den dicht gedrängt stehenden Fotografen, die darauf bedacht sind, jede Gemütsregung auf den Gesichtern festzuhalten.
Matte Blicke und langsame Bewegungen lassen die Wirkung von Beruhigungsmitteln erkennen, die nach Weinkrämpfen und Nervenzusammenbrüchen von Sanitätern und Ärzten verabreicht werden mußten. Lebensmittel und warme Decken werden auf das abgesperrte Gelände gebracht, über dem zehn Stunden nach dem Unglück immer noch der allgegenwärtige Geruch des in die Luft geschleuderten Kohlenstaubs liegt. Nach langem Warten und vergeblicher Hoffnung hat man gestern beschlossen, sofort einen Raum des Werksgeländes in eine Moschee umzuwandeln.
Türkische Kumpel, die mittags zum Schichtwechsel kommen, fassen mit an, um ein Stromkabel quer über das Gelände zu ziehen, damit Ventilatoren Luft in einen Nebenschacht blasen können, durch den die Rettung erfolgen soll. Ob Freunde unten sind, wird der aus Anatolien stammende Ibrahim - der seit 22 Jahren in der Grube arbeitet - von Umstehenden gefragt. „Freunde?“ erwidert er verständnislos, „das sind doch alles Freunde!“
In den in kurzen Abständen improvisierten Pressekonferenzen ist zunächst noch von 16 tot aufgefundenen Bergleuten die Rede. Zur Frühschicht waren neben Familienvätern auch viele junge Leute eingefahren, darunter, so Borkens Bürgermeister Bernd Heßler, auch ein 18jähriger Abiturient, der vor seinem Studium erstmals in seinem Leben ein Bergwerk unter Tage kennenlernen wollte. Er war am Unglückstag erstmals in die Grube eingefahren.
„Wir stehen vor einem Rätsel“, äußert sich Bergwerksdirektor Walter Lohr zur Frage nach der Ursache. „Es gab bisher nichts wie das, was jetzt vorliegt, noch nicht einmal ansatzweise.“ Die seit 1923 bestehende Grube der Preussen Elektra - Braunkohlebergbau wird in Nordhessen bereits seit dem 16.Jahrhundert betrieben - fördert täglich aus Tiefen zwischen 50 und 150 Metern durchschnittlich bis zu 1.000 Tonnen Kohle, die ausschließlich zur Befeuerung des umstrittenen Borkener Kohlekraftwerkes genutzt wird. Dessen Stillegung wird für 1993 diskutiert. Die Region ist vom Kohlebergbau abhängig, das Werk Stolzenbach Lebensgrundlage für rund 150 Borkener Familien.
Auch die Nichtbetroffenen leiden mit. Beim Hessischen Rundfunk laufen die Telefone heiß. Die Hörer wollen wissen, wie sie helfen können. Man muß doch etwas tun können und ist froh, daß es wenigstens ein Spendenkonto gibt.
Direkte Hilfe leisten ist derweil unmöglich. Die Unglücksstelle ist weiträumig abgesperrt. Über den Rundfunk fordert die Polizei die Bevölkerung auf, dem Kataastrophenort nicht zum Ziel von Feiertagsausflügen zu machen. Die sechs Bergungsteams mit jeweils fünf Personen können derweil nur mit schwerem Atemschutzgerät in die Grube vordringen, in der immer noch eine vierfach tödliche Kohlenmonoxidkonzentration herrscht. Die Hoffnung, Überlebende zu finden, wird immer geringer. Wer nicht sofort durch den immensen Explosionsdruck zerschmettert oder vom Gestein erschlagen wurde, so wird befüchtet, mußte höchstwahrscheinlich ersticken.
Viele Opfer werden nur anhand ihrer Lampennummern zu erkennen sein. Ihre Bergung und Identifizierung soll jedoch erst erfolgen, wenn alle 57 Bergleute gefunden sein werden. Solange es auch nur noch einen Funken Hoffnung für die verschütteten Bergleute gibt, will man alle Zeit und technische Mittel dafür nutzen, mögliche Überlebende zu retten. Am Explosionsort gleicht der Eingang zum Tunnel einem zerfetzten Kanonenrohr.
Sichtblenden sollen Fotografen und Fernsehteams davon abhalten, die teils schrecklich entstellten Leichen, die durch eine Bergungskapsel aus der Grube geholt werden sollen, abzulichten. Kein Halt gemacht wird jedoch vor den im Laufe des gestrigen Tages am Werkstor eintreffenden Angehörigen, die sich die traurige Wahrheit bestätigen lassen, Frauen und Kinder, die vor Leid und Kummer weinen und schreien.
Als sich am Donnerstag mittag die Bilanz auf 35 Todesopfer erhöht hatte, war die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, fast gänzlich geschwunden. Die schlimmsten Erwartungen wurden grausame Wahrheit.
Eigentlich sollte der 2.Juni in Borken Beginn eines fröhlichen Heimatfestes sein. Es wurde ebenso wie alle Sportveranstaltungen abgesagt. Statt dessen werden nun Trauerfeiern vorbereitet.Petra Mengel/Thomas Thiele
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