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Der polnische Historiker Adam Zamoyski über die bundesdeutsche Polenpolitik  ■ D E B A T T E

Die diplomatische Situation in Europa gleicht in gewisser Hinsicht derjenigen vor 1939. Wie damals fällt heute ein System unter aller Augen auseinander. Diejenigen, die es aufgebaut haben, sind überrumpelt. Es fehlt ihnen an Kühnheit, an Vision, ja sogar an Vorstellungskraft. Das Land, das durch dieses System am meisten behindert wurde, erweist sich plötzlich als das mächtigste und das einzige, das eine kohärente Politik vorzuweisen hat.

Wie 1939 spürt Deutschland ein Bedürfnis nach Expansion in psychologischer wie auch in materieller Hinsicht. Es sieht überhaupt keinen Grund, darauf zu verzichten. Vor allem verfügt es über Waffen. Nicht die Waffen, die es 1939 einsetzte, sondern diejenige, die heute zählt: die ökonomische Waffe. Nach 45 Jahren politischer Zurückhaltung weiß es, daß seine geschichtliche Stunde geschlagen hat und daß es Zeit ist, das Haupt wieder zu erheben. Eng verknüpft mit dem Wunsch, bei sich selbst, in Brandenburg wie in Westfalen, Herr im Hause zu sein, steht es heute unter einem ganz natürlichen, stark ausgeprägten Zwang, zu einer aktiven Souveränität zurückzufinden, indem es seine Macht in der traditionellen Einflußsphäre im Osten ausübt. Gewiß, es geht nicht mehr um eine Invasion und auch nicht um militärische Eroberung, Deutschland spürt das Bedürfnis nach einem ökonomischen Lebensraum. Scheinbar kein Problem. Der ganze Teil Europas, der östlich von Deutschland liegt, ist ökonomisch entwaffnet. Er kann der Offensive der Deutschen Mark nicht widerstehen. Selbst Rußland scheint bereit, vor dieser wunderbaren Waffe zu kapitulieren .

Aber es gibt trotzdem ein Hindernis. In dieser ganzen Region gibt es ein Land, das für eine Balkanisierung überhaupt nicht anfällig ist, ein Land, das eine erstaunliche politische, ja sogar eine wirtschaftliche Stabilität aufweist, ein Land, das sich aufgrund seiner 40 Millionen Einwohner und seines historischen Bewußtseins als eine Macht begreift. Und es ist just jenes Land, das über Territorien herrscht, die noch kürzlich deutsch waren. Allein schon durch seine Existenz blockiert Polen in gewisser Weise Deutschland .

Die Rückkehr zur Unabhängigkeit hat Polen vor ein 200 Jahre altes Dilemma gestellt. Da das Land nicht stark genug ist, sich selbst zu verteidigen, muß es auf einen seiner Nachbarn setzen. Aber soll man das Vorzimmer Rußlands oder das östliche Bollwerk Europas werden?

Die erste Option hat eine lange und honorable Geschichte. Sie war im 18. Jahrhundert eng verbunden mit dem Familienklan Czartoryski und dem König Stanislas Poniatowski, wurde im 19. Jahrhundert von allen großen konservativen Politikern verfolgt und steht auf einem soliden Fundament. Die andere Möglichkeit für Polen bestünde darin, sich auf Deutschland abzustützen und sich so enger in Europa zu integrieren. Dies würde offensichtliche Vorteile mit sich bringen und würde dem aktuellen nationalen Empfinden eher entsprechen.

Der Nachteil der „russischen“ Option besteht darin, daß die Konvulsionen des politischen Systems Moskaus früher oder später mit katastrophalen Folgen auf Polen überschwappen werden. Der Nachteil der andern Option hängt damit zusammen, daß die Deutschen bisher immer gegen Polen gespielt haben: 1792, als sie es vorzogen, ein Teil des Territoriums ihres Bündnispartners sich anzueignen, statt es gegen Rußland zu verteidigen; 1848, als sich das Parlament zu Frankfurt eines Besseren besann und beschloß, daß die Polen, die es zunächst zu unterstützen gewillt war, alles in allem nur eine „Nation mit zu tiefem kulturellen Niveau“ seien; 1916, 1939... Wie schon Engels angemerkt hat, verwandelt sich die Freundschaft der Deutschen zu den Polen schnell in Artilleriesalven.

Diese Gefahren kennt jeder Pole. Aber man muß seine Wahl treffen. Und die Regierung Mazowiecki hat sie getroffen. Sie will die Zäsur zwischen Ost und West, die Grenze am Bug und nicht an der Oder. Sie hat Europa, also Deutschland gewählt. Man macht sich kaum Illusionen, aber man glaubt, daß die Ära der militärischen Eroberungen vorbei ist und daß die neuen Strukturen Europas eine Garantie bilden werden .

Das Problem der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch ein vereinigtes Deutschland wurde in Warschau als ein formales Detail betrachtet . Es ist offensichtlich, daß die Deutschen nicht bereit sind, sich in die Wiederaneignung Schlesiens oder Pommerns zu stürzen.

Was die Polen völlig überrascht hat, ist die Art und Weise, wie Bonn das Problem zu einem Diskussionsgegenstand gemacht hat. Die ausweichenden Erklärungen Helmut Kohls seien, so meinte man, wahltaktischen Notwendigkeiten geschuldet. Aber sein Besuch in Moskau im Februar hat das Gespenst von Rapallo wieder heraufbeschworen; und weitere, noch schrecklichere. Denn wenn es einen wirklichen Alptraum gibt, der den polnischen Geist heimsucht, ist es die Möglichkeit einer strategischen Entente zwischen Rußland und Deutschland. Für eine solche gibt es nur einen wirklichen Grund, und jedesmal, wenn es dazu gekommen ist, war das Resultat dasselbe - die beiden Bündnispartner teilten sich das polnische Territorium, das sie trennte, auf.

Eine leichte Panik ging durch Polen. Man konnte sich zwar leicht versichern, daß sich die Zeiten geändert haben - aber haben sich auch die Deutschen geändert? Die Deutschen sind ein gefährliches Volk, sagte Mussolini, weil sie kollektiv träumen. Zu Jahresbeginn hatte man den Eindruck, daß sie zu träumen begännen. Als Kohl im März 1990 in Sachen Reparationsleistungen und Rechte der deutschen Minderheit in Polen ein Erpressungsmanöver versuchte, wurde offensichtlich, daß seine Regierung beabsichtigte, die Grenzfrage mit anderen Problemen zu verknüpfen, die man unmittelbar nicht würde lösen können. Weshalb hat sich das offizielle Deutschland für eine solche Obstruktionshaltung entschieden?

Die gesamte Politik Kohls Polen gegenüber seit dem Herbst 1989 zielt in der Tat darauf ab, es diplomatisch zu isolieren. Seine Zweideutigkeit in der Grenzfrage hat in Polen zu starken Reaktionen geführt, die ihrerseits wieder schlecht ankamen. In England fand man, daß Polen die Spannung aus egozentrischen Gründen förderte. Man wollte damit sagen, daß die jüngst befreiten Staaten Osteuropas in balkanische Atavismen zurückfallen, daß sie sich unnötig aggressiv aufführen, daß man ihnen Regeln beibringen müsse, alles Vorschläge, die stark an jene eines Lloyd George erinnern, der 1919 dachte, daß sich die befreiten Nationen nicht selbst regieren könnten, also künftig die größte Bedrohung des Friedens darstellen würden. Nun war aber Polen 1945 einer der wesentlichen kriegführenden Staaten, mit seiner Exilregierung der einzige wichtige aktive Alliierte, der Großbritannien nach dem Juni 1940 noch blieb. Deutschland weiß das genau. Es weiß auch besser als sonst jemand, daß Polen ein ungeheures moralisches Recht hat, weil es unter dem Weltkrieg mehr gelitten hat als alle andern europäischen Länder, die Sowjetunion ausgenommen, zusammen. Ein Grund mehr, es von den Verhandlungen fernzuhalten.

Seit die Vereinigung auf der Tagesordnung steht, setzt Deutschland alles daran, bei der Festlegung des Systems, das sich in Umrissen abzeichnet, einen Platz einzunehmen, der dem der vier Alliierten ebenbürtig ist. Aus „den zwei plus vier“ müssen einfach „die fünf“ werden. Die fünf werden über alles entscheiden.

Wenn „die fünf“ über die Zukunft Europas zu diskutieren beginnen, werden sie Probleme von ganz anderem Gewicht als die Oder-Grenze oder die Rechte der polnischen Zwangsarbeiter lösen müssen. Wie 1919 und 1945 werden die Großen gezwungen sein, ihre jeweilige Staatsraison, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und ihre internationalen Interessen gegenseitig zu respektieren. In solchen Momenten werden die Interessensphären auf Kosten kleiner lokaler Interessen gegenseitig gegenseitig anerkannt. Die Nationen, die nicht der Gruppe der Großen angehören, werden in die Etage der Bittsteller verwiesen.

Polen, dessen Grenzen sogar vom Schlußakt dieser Übereinkunft abhängen werden, wird sich in einer prekären Position wiederfinden, und es wird gezwungen sein, mit Bittschriften zu haushalten. Es wird seine Grenzen bekommen, man wird sie ihm mit Wohlwollen zugestehen, doch um den Preis der Aufgabe all seiner anderen Forderungen.

Adam Zamoyski

Leicht gekürzt aus 'Liberation‘

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