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Archiv-Artikel

bettina gaus über Fernsehen Die Kamera kennt keine Zufälle

Im Fernsehen kommen Streichhölzer nur dann vor, wenn sie brennen – das ist Pech für Afghanistan

Manchmal fällt mein Blick auf die Streichhölzer neben dem Aschenbecher oder auf die Flasche Terpentin im Küchenschrank. Gelegentlich sehe ich, wie Fußgänger bei Rot die Straße überqueren. Und weiter? Gar nichts weiter. Mit den Streichhölzern werden Zigaretten und Kerzen angezündet, keine Wohnungen. Das Terpentin verwandelt seine Umgebung nicht in ein Flammenmeer, sondern steht seit Jahren unbeachtet herum. Auch sind die von mir beobachteten Fußgänger sämtlich nicht von Autos erfasst worden. Sie haben überlebt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Passanten niemals überfahren werden und brennbares Material ganz ungefährlich ist. Aber wir haben uns angewöhnt zu glauben, dass alles in Ordnung ist, was nicht sofort in Unordnung gerät. Das hat uns das Fernsehen so beigebracht. Auf dem Bildschirm gibt es nämlich keine Nebensächlichkeiten. Dort verursachen Streichhölzer entweder Brände, oder sie kommen gar nicht erst vor. Die Kamera kennt keine Zufälle. Was sie zeigt, ist von Bedeutung. Die Großaufnahme als Ausrufezeichen: Achtung! Entwicklung! Gefahr!

Die Welt wird übersichtlich und berechenbar, wenn Ursache und Wirkung unmittelbar aufeinander folgen. Im Fernsehen ist das unvermeidlich. Regisseure haben allenfalls ein paar Stunden Zeit, um den Zuschauern zu zeigen, wohin das Handeln der jeweiligen Hauptfiguren führt. In Vorabendserien werden die Akteure sogar im Fünf-Minuten-Takt mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen konfrontiert. Selbst die „Tagesschau“ hat sich an das Unterhaltungsprogramm angepasst. Kaum je berichtet sie von Prozessen, die sich quälend langsam und noch dazu ohne passende Bilder vollziehen. Genmanipulation an Nahrungsmitteln? Kein fernsehgerechtes Thema.

Das ist beruhigend. Folgt die Strafe der Tat nicht auf dem Fuße, dann folgt sie also überhaupt nicht. Davon lässt man sich gerne überzeugen. Den meisten von uns fällt es ohnehin schwer zu glauben, dass unser Tun und Lassen noch in mittelferner Zukunft unabweisliche Folgen nach sich ziehen kann. Natürlich ist auch mir bekannt, dass Rauchen schädlich ist. Aber es ist ja vorstellbar, dass ich zu den wenigen Glücklichen gehöre, die von unerfreulichen Gesundheitsproblemen verschont bleiben.

Kennen wir nicht alle jemanden, dessen Großvater bis ins hohe Alter glücklich eine ganze Schachtel am Tag rauchte, bevor er dann friedlich nachts entschlief? Gewiss, das ist nicht der Regelfall. Aber doch immerhin möglich. Ich rauche zwei Packungen täglich. Der nicht rauchende Teil meiner Umgebung hält das für ein alarmierendes Zeichen eines vollkommen irrsinnigen Verdrängungsprozesses. Einige derjenigen, die mir das vorhalten, kämen niemals auf die Idee, sich um ihre Altersversorgung zu kümmern. Was wiederum ich für unvorstellbar leichtsinnig halte.

Welchen Anteil hat das Fernsehen an einem Weltbild, das es uns erlaubt, jeweils das für undenkbar zu halten, was wir nicht für erwartbar halten mögen? Weil sich nämlich auf dem Bildschirm all das gar nicht ereignet, was nicht sogleich geschieht? Der Krieg gegen den Irak endete mit einem – vorhersehbaren und vorhergesagten – militärischen Sieg der USA. Mögliche Folgen, vor denen Kriegsgegner gewarnt hatten, lassen hingegen bislang auf sich warten. Die Bilderstürmer im Irak waren erfolgreich, und dennoch steht die Freiheitsstatue noch an ihrem Platz. Auch ist nicht eine gesamte Weltregion über Nacht im Chaos versunken. Manche derjenigen, die den Krieg für richtig gehalten haben, sehen darin seltsamerweise Anlass zum Triumph. Ganz so, als wäre es ein Triumph für alle Raucher, wenn einer stirbt, bevor er an Lungenkrebs dahinsiecht. Als ob die Krankheit nicht Jahre bräuchte, um sich zu entwickeln.

Die Definition von Ursache und Wirkung hängt eng mit dem jeweiligen Verständnis von Zeit zusammen. Das Fernsehen ist ein schnelles Medium, das seine Zuschauer vergesslich werden lässt. Und: Es ist lösungsorientiert. Wenn für ein Problem lange keine Lösung gefunden wird, dann verschwindet es aus dem Blickfeld. Es gibt ja nichts Neues zu berichten. Deshalb können manche Leute heute behaupten, keine der düsteren Prophezeiungen im Zusammenhang mit Militäroperationen der jüngeren Vergangenheit habe sich erfüllt. Schließlich stehen in Afghanistan heute nur noch wenige Kameras, in Somalia gar keine mehr, und die letzten Bombenattentate auf Touristen sind auch schon wieder ziemlich lange her.

Leider haben Verlierer jedoch keinen Grund zur Eile. Sie können sich für ihre Reaktionen auf eine Niederlage viel mehr Zeit lassen, als westliche TV-Gemeinden sich das vorzustellen vermögen. Auch das ist kein Anlass zur Rechthaberei. Sondern nur zur Sorge.

Fragen zum Rauchen?kolumne@taz.de