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Die Intimität des Friedhofs

■ Manche Grabsteininschriften lesen sich wie Abzählreime, deren einzelne Glieder sich immer weiter vom konkreten Körper entfernen/ Das Interesse an Friedhofsführungen nimmt zu

Als West-Berlin noch Insel war, ging man an Wochenenden häufig auf die nahegelegenen Friedhöfe, um im Innern der Stadt, die kein wirkliches Außen hatte, ein wenig Ruhe zu finden. Betrunkene Freundschaften wurden nachts nach der Kneipe und nachdem man ein paar Zäune überklettert hatte, auf dem Matthäifriedhof wirklich. In den wundervollen Baumalleen, zwischen Mond, Wolken, Wind und merkwürdigen Geräuschen bestand ein Spiel darin, sich, ohne einander aus dem Blick zu verlieren, voneinander zu entfernen, um ganz langsam wieder aufeinander zuzugehen. War man weit genug voneinander entfernt, war der andere für ein paar Momente wirklich ein ganz anderer, vor dem man sich ein bißchen gruseln konnte, und es gab einen Punkt der Entfernung, wo Erkennen und Fremdheit oszillierten; auch in einem selbst, denn man konnte sich auch vorspielen, daß man selbst ein ganz anderer wäre.

In der Vorstellung ist der Friedhof immer ein fester Ort, der sich nicht bewegt, weil sich die Leute, die dort liegen, nicht bewegen. So kann man schön nachdenken, während sich verwandte Heger und Pfleger mit Harken und kleinen Unkrautwegmachern über die Gräber bücken. Vielen Alten ist der Friedhof natürlicher Lebensraum. Neben dem Kaufmann an der Ecke ist er einer der wenigen öffentlichen Orte, die übrig geblieben sind. Oft setzen sie ihren Namen schon auf den Grabstein des verstorbenen Lebensbegleiters.

Auf manchen Grabsteinen liest sich das Leben wie ein Abzählreim, dessen einzelne Glieder sich immer mehr vom konkreten Körper entfernen: »Geliebt, beweint und unvergessen«. (»Verliebt, verlobt, verheiratet«)

Gibt es mehrere übriggebliebene Generationen, wird der Tote an seinem Familienplatz lokalisiert: »Mutti«; Frau, Mutter und Oma; »lieber Mann, unser guter Vater«. »Vati« oder »Papi« werden meist vergeblich gesucht. Die Koseform ist Frauen und Kindern vorbehalten, während tote Männer die Autoritätsplätze besetzen. Nur ein Monument auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Gedenkstätte der Sozialisten durchbricht dieses Muster. Dort gedenken die »graphischen Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen« »ihrer Führerin«.

»Warum« ist eine gängige Grabinschrift; das dazugehörige »darum« formuliert sich auf den Grabmälern und -platten sehr unterschiedlich. Die einen lassen die Toten von den Qualen des Lebens sprechen: »Weinet nicht an meinem Grabe/ Gönnet mir die ewige Ruh/ denkt was ich gelitten habe/ eh ich schloß die Augen zu«; die anderen lassen die Toten für die »Sache des Friedens« gestorben sein, ehren die, die für den Sozialismus starben, fielen oder ermordet wurden. An den Gräbern der Sozialisten verbinden sich die Lebenden mit den Toten zu einem gemeinsamen Kampf. Am Grab soll etwas von der Kraft der Toten auf die Lebenden übergehen und helfen, den Tod zu überwinden. »Kämpfende Jugend erschrickt nicht der Tod«.

Doch »mit der Ruhe auf dem Friedhof ist es in Berlin vorbei«, schrieb der 'Spiegel‘ vor ein paar Wochen. »Wie auf dem Rummelplatz.« Auf dem jüdischen Friedhof in Weissensee sei das tatsächlich eine Zeitlang so gewesen, berichten Friedhofsführer, doch insgesamt »können wir das nicht bestätigen«, erklärt Ulrich Kratz-Whan vom »Kultur Büro Berlin«, einer »Initiative arbeitswilliger Kunsthistoriker, Künstler und Pädagogen«, die mittlerweile zehn kundige Führungen über Berliner Friedhöfe anbietet. Fünf bis 15 Leute kommen zu den Friedhofsführungen. Vor 20 Jahren sei das noch »undenkbar« gewesen, erzählt der Kunsthistoriker Andreas Bernhard, der vier Friedhöfe in seinem Programm hat, doch das Interesse sei schon seit »acht bis zehn Jahren vorhanden«.

Jörg Kuhn, ein anderer Friedhofsfreund, der seinen Magister über Mausoleen des 19. Jahrhunderts geschrieben hat, will ebenfalls einen Friedhofstourismus nicht bestätigen. Zwar sei »das Interesse an Friedhöfen gestiegen«, doch der Berliner hätte schon immer ein »intimes Verhältnis« zu Friedhöfen gehabt. Solch ein »persönliches Verhältnis« sei zum einen etwas ganz anderes als Tourismus, zum anderen würden fast ausschließlich Berliner an den Führungen teilnehmen. In seinem Publikum zwischen »zwanzig und siebzig« wären Frauen ab 45 am stärksten vertreten. Schon immer wurden die Friedhöfe als stille Orte zum Lesen oder Nachdenken benutzt, meint Jörg Kuhn. Einige Punks würden auch recht gerne des Nachts in Mausoleen feiern.

»Prommis« seien nicht mehr so gefragt, und der Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Gedenkstätte der Sozialisten träumt allein und einsam vor sich hin und ist vielleicht gerade deshalb einer meiner Lieblingsfriedhöfe, mag der Lichterfelder Friedhof mit seinen Parkanlagen, Wissenschaftlern und Schriftstellern auch schöner sein, mögen Fichte, Hegel und Brecht auf dem Französischen bzw. Dorotheenstädtischen Friedhof vor dem Oranienburger Tor noch so sehr locken. Detlev Kuhlbrodt

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