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Archiv-Artikel

Adolph Freiherr von Knigge: „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien“ Die Idioten auf dem Thron

In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Bücher, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind

1788 erschien in Hannover ein zweibändiger Trumm, der seinen Platz als größtes Missverständnis der Literaturgeschichte bis heute souverän behauptet: „Über den Umgang mit Menschen“. Autor war der Freimaurer, Publizist und Radikalaufklärer Adolph von Knigge (1752 – 1796). Mit seinem im Laufe der Jahrzehnte zur Benimmfibel herabgewürdigten Werk unternahm Herr Knigge (das „von“ hatte er angelegentlich aus seinem Namen gestrichen) den Versuch, in Deutschland eine „sanfte, wohltätige Revolution der Vernunft“ zu etablieren. Die Abhandlung enthält, neben allerlei lebensklugen Ratschlägen, den Appell an das bürgerliche Ich, sich vom Adel nicht länger die Butter vom Brot nehmen zu lassen, schon gar nicht von seinen Protegés, den „Hofschranzen“, „empordringenden Dummköpfen“ oder „vornehmen Bankerottierern“. Knigges diesbezügliche Ausführungen sind an subversiver Deutlichkeit nicht zu überbieten.

„Schlage ihre flachen, schiefen Urteile kaltblütig mit Gründen nieder. Stopfe ihnen das Maul, wenn sie den Redlichen lästern. Stimme ihnen nicht bei, wenn sie je vergessen wollen, daß sie, was sie sind und was sie haben, nur durch die Übereinkunft des Volkes sind und haben und dass man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Mißbrauch davon machen!“

Das Buch wurde ein Bestseller, gerade weil das Publikum solche Stellen gerne überlas. Während der welsche Nachbar schon bald daranging, uneinsichtige Blaublütler einen Kopf kürzer zu machen, tat der deutsche Michel, was er am liebsten tut. Er arrangierte sich mit der Obrigkeit. Man paukte die Knigge’schen Verhaltensregeln, machte strebsam Karriere und aus dem „Umgang mit Menschen“ des ewigen Spießers Wunderhorn.

Der stets klamme Knigge nahm die Tantiemen gerne, aber so war die Sache nicht gedacht. Drei Jahre später, links des Rheins hatte man gerade den getürmten König wieder eingefangen, schrieb er einen utopisch-satirischen Roman, der seine Intentionen klarstellen sollte: „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien oder Nachricht von seinem und seines Herrn Vetters Aufenthalte an dem Hofe des großen Negus oder Priesters Johannes“. Diesmal hatte sich Knigge klar genug ausgedrückt. Kaum war das Buch auf dem Markt, schimpfte man ihn „Volksaufwiegler“, die Abessynien-Reise „eyne schlecht maskirte Empfehlung der Revolution“.

Das traf den Nagel auf den Kopf. Im damals beliebten, weil die Zensur aushebelnden exotischen Gewand (Details klaute Knigge aus James Bruces „Reisen zur Entdeckung der Quellen des Nils“), servierte er ein politisch explosives und höchst vergnüglich zu lesendes Gesamtkunstwerk. Die Zutaten sind eine „Geschichte des Despotismus überhaupt, in seiner Entstehung, seinem Wachsthume und seinen Folgen, die ihm früh oder spät das Grab bereiten“ , ein Verfassungsentwurf, den Knigge für so gelungen hielt, dass er ihn der französischen Nationalversamlung vorzulegen gedachte, und eine irrwitzige Tour de Force durch die Niederungen des Absolutismus.

Der Leser folgt dem Advokatus Noldmann von Goslar nach Gondar, in die Hauptstadt Abessyniens (heute Äthiopien). Dort hat es sein Vetter Wurmbrand, ein verkrachter Theologiestudent, zum Minister des Negus gebracht. Noldmann soll den Erzieher des Prinzen geben. Schon die Anreise ist ein humoristisches Kabinettstückchen. Eine Schar Gelehrter, die Noldmann angeworben hat, erweist sich als Panoptikum zänkischer Eierköpfe, die Kleinkönigreiche am Wegesrand geben ein trauriges Spiegelbild heimischer Duodezhöfe, beherrscht von Figuren, die „ganz blödsinnig“ sind. Einer verbringt die Tage mit dem Schnitzen von Zahnstochern, ein anderer hat sein Land unter Wasser gesetzt, weil er gerne angelt. Der dritte erklärt seinen notleidenden Untertanen, es sei „unpatriotisch Hunger zu haben“, der vierte ist Sezierfetischist und lässt seinen Untertanen schon mal „die Leber zur Hälfte aus dem Leib schneiden, um zu sehen, wie lange man ohne Leber noch athmen kann.“

In Gondar angekommen, schickt ihn der Negus samt Sohnemann gleich wieder zurück, um eine klassische Bildungsreise durch die „aufgeklärten“ deutschen Lande anzutreten. Das Ganze wird selbstredend zum Fiasko. Denn der Mohrenprinz lernt schnell. Er entwickelt ein Faible für „Trunk, Spiel und Weiber“, holt sich im Bordell „eine ekelhafte Krankheit“ und in der Armee von Hessen-Kassel „derbe Stockprügel“, weil er den Dienst verschläft. Als er zu Hause die Regentschaft übernimmt, ist das Land binnen kurzem ruiniert. Es folgt eine Revolution, die den jüngsten Sohn des Negus auf den Thron spült. Der Benjamin, glücklicherweise ein Intellektueller von Format, schmeißt die Fremden hinaus und installiert, gestützt auf die schon erwähnte mustergültige Verfassung, das Wahlkönigtum.

Als Knigge das Werk beendet hatte, schrieb er an Freund Johann Heinrich Campe: „Mein armer Kopf hat nie etwas Besseres geliefert“. Viele andere deutsche Literatenschädel ebenfalls nicht.

MICHAEL QUASTHOFF

Adolph Freiherr von Knigge: „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien“, Reihe „Die Andere Bibliothek“ im Eichborn Verlag, 369 Seiten, 28,50 Euro