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Archiv-Artikel

Die Hüterin der Drachen

Seit 20 Jahren ist Maria Schild Märchenerzählerin. Ihre Lieblingsfigur: Baba Jaga, berühmte Hexe des Ostens. Eine Gebende und Nehmende wie sie

„Märchen werden erzählt, um Dunkelheit und Angst vergessen zu machen“

von WALTRAUD SCHWAB

Eine vollkommene Erzählerin verändert ihre Geschichte jedes Mal, wenn sie sie vorträgt, sagt Maria Schild. Sie wird es wissen, denn seit fast zwanzig Jahren ist sie Märchenerzählerin. „Nennen Sie es Beruf“, sagt die Berlinerin. Er ist eine Synthese, in der all ihre Ausbildungen zusammenfließen: Pädagogik, Ethnologie, Schauspielerei. Aber nicht nur das. Für sie ist es auch die Suche nach einer Heimat im Wort. „Märchen werden erzählt, um Dunkelheit, Angst, Kälte vergessen zu machen“, sagt sie. Sie hat es so in frühester Kindheit erlebt, als sie nach dem Krieg bei ihrer Großmutter aufwuchs, einer Frau, die den Wald liebte und sich mit dem Trost auskannte, den Geschichten spenden können. Der Enkelin war sie ein eigensinniges Vorbild. Nicht nur hat sie bei ihr gesehen, wie Unangepasstheit zu meistern ist, sie hat auch Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit von ihr gelernt.

Maria Schild ist die große Geste auf den Leib geschrieben. Dunkelhaarig, leidenschaftlich, gehüllt in kostbare Kleider: mal mit Kreuzstichen verziert, die Frauen in Persien gestickt haben; mal in den zerfließenden Farbverläufen der Ikat-Technik, die entlang der Seidenstraße gewebt wird; mal mit Mandalas geschmückt, die eine Freundin von ihr in Bonn genäht hat. So gekleidet setzt sie sich in ihrem Stuhl zurecht, atmet ein, gibt mit träge dahinfließender Stimme eine Kostprobe ihres Könnens: „Als die Welt auseinander brach in ein Hell und ein Dunkel, in ein Schwer und ein Leicht, in ein Heiß und ein Kalt, verwandelte sich der Drache, der in ihr gelebt hatte. Seine Haare wurden die Sterne, seine Knochen die Berge, seine Tränen der Regen, sein Samen die Perlen, aber seine Flöhe, die sich unter den Schuppen seines Panzers eingenistet hatten, wurden zu Menschen.“ Maria Schild möchte nicht, dass die Geschichte mitgeschrieben wird. „Geben Sie sie so wieder, wie es Ihnen gefällt“, sagt sie. Tradierung ist nicht dogmatisch. Die Tränen des Drachen hätten auch die Meere sein können, die Haut die Erde, die Fingernägel die Tiere. „Bedeutsam allerdings aus chinesischer Sicht: dass die Parasiten zu Menschen werden.“

„Junge Frau, Sie werden es schwer haben“, hatte Erwin Piscator, der Altmeister des Theaters, zu Maria Schild gesagt, als er Anfang der 60er-Jahre ihre Schauspielprüfung abnahm. Sie imitiert ihn mit theatralischer Stimme. Piscators Verdikt hat sie in ihrer Eigenwilligkeit durchaus bestärkt. „Ich sah nicht der Norm entsprechend aus, ich konnte mich nicht gut verkaufen, ich wollte politisch sein.“ Eine Zeit lang spielte sie an der Schaubühne unter Hartmut Lange.

Vom Aufbruch der 68er politisiert, wandte sie sich der Sozialpädagogik zu. Nur so, so die Maxime, ist der Mensch zu verändern. Sie studierte und arbeitet seither in der Familienberatung des „Arbeitskreises Neue Erziehung“. „Müsste ich vom Märchenerzählen leben, wäre ich nicht frei“, sagt sie.

In den 80er-Jahren studierte die Berlinerin noch einmal. Dieses Mal Ethnologie. Ihr Schwerpunkt: das Schamanentum der sibirischen Völker. Die Schamanen sind kulturell die Überlieferer von Geschichte und Geschichten, Vermittler zwischen den Lebenden und den Ahnen. Durch das Studium kam Maria Schild zum Märchenerzählen, das sie zurückführte zu ihren alten Wurzeln: dem Trost, den ihr die Großmutter mit ihren Erzählungen spendete. „Mythos steht nicht im Widerspruch zu Logos. Es ist eine andere Welt des Denkens. Keine bessere. Keine schlechtere“, sagt sie. „Beides sind Möglichkeiten, Denken, Fühlen und Handeln in Einklang zu bringen.“

Maria Schild begann, nicht nur Märchen zu sammeln, vor allem jene aus dem asiatischen Raum, sondern sie versuchte ebenso, auch eine Lanze für das Erzählen zu brechen. „In den östlichen Ländern erhält man dafür großen Respekt. Bei uns wurde ich belächelt.“ Mittlerweile allerdings hat sie einen gestandene Fangemeinde. Außerdem hat sie ganze Generationen von Nachfolgern im Erzählen ausgebildet. Die meisten sind Frauen.

Mit einigen ihrer Adeptinnen reist sie regelmäßig in geschichtenreiche Regionen. Unterwegs erzählen sie Märchen, tauschen Mythen aus mit den Einheimischen, besuchen unbekannte Orte und erfragen die Legenden, die damit verbunden sind. „Noch die kleinsten Völker haben Märchen und eine wunderbare Poesie.“ Es ist eine Art des Reisens, die ihnen die Türen öffnet, weil sie selbst nicht mit leeren Händen ankommen. Mit der Transsibirischen Eisenbahn sind sie gefahren, entlang der Seidenstraße sind sie gereist, und in Mesopotamien waren sie. China, den Iran und Syrien haben sie erkundet. In Buchara hat Schild im Innenhof der Moschee ein Märchen erzählt, in Palmyra im Amphitheater, in Uruk auf den Ruinen, dort, wo das Gilgameschepos entstand. Ad-hoc-Inszenierungen sind es. Geschichten lassen das Fremde zu. Sie sind ein Bindeglied zwischen den Kulturen. „Man kann sie auf sich wirken lassen, muss sie nicht interpretieren und kann sie verwerfen, wenn man sie nicht mag“, sagt Schild.

Ihr neuestes Projekt: Sie dokumentiert ihre Reisen. Das erste Buch, die „Blaue Karawane“, ist soeben erschienen. Es führt die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn entlang, erzählt von Schwänen, die zum Menschsein gezwungen sind, von metallenen Bergen, von bösen Stiefmüttern und von Zugbegleiterinnen, die zu Freundinnen wurden. Immer steckt Hoffnung darin.

Sibirien hat es Schild angetan, und Baba Jaga ist ihre Lieblingsfigur. „Die berühmteste Hexe des Ostens.“ Eine Gebende und eine Nehmende sei sie, eine Verschlingende und eine Gebärende. Deshalb habe es in den Regionen, in denen sie beheimatet ist, keine Hexenverbrennungen gegeben. Eine, die gut und schlecht ist, bewegt sich im menschlichen Rahmen. Schild mag Baba Jaga aber noch aus einem anderen Grund. Wissen doch beide darum, wie man Menschen in seinen Bann zieht.

Wenn Schild ihre Märchen erzählt, tut sie alles, um die Zuhörer und Zuhörerinnen zu fesseln. Sie benutzt die eigenen Bewegungen, die Stimme, die Modulation, die Präsentation, damit sich Zuhörer und Zuhörerinnen so wenig wie möglich ablenken lassen. Die Konzentration, die dabei im Raum entsteht, kann sie modellieren. Also will sie die Leute beeinflussen, wird sie gefragt. „Ja, im Sinne meiner Großmutter, die immer gesagt hat: ‚Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu‘ “, antwortet Schild.

Im Rahmen des Tempelhofer Frauenmärz findet heute um 20 Uhr eine „Märchenreise von Moskau an den Amur“ mit Maria Schild im Goldenen Saal des Rathauses Schöneberg statt. (Maria Schild, „Blaue Karawane“, Verlag Hans Schiler, Berlin 2003, 74 Seiten, 14,90 €)