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Die Geisterwelt des deutschen Schlagers

■ Musikrevue; Sonntag, 17.50 Uhr, RTLplus

Da fällt die Bundesprüfstelle für Jugendgefährdendes über die harmlose „Schwarzwaldklinik“ her; da verschiebt der NDR einen TV- Film bis weit in die Nacht, weil darin eine realistische Schießerei gezeigt wird. An einer der größten Obszönitäten, einer Alpträume und Schwerstschäden verursachenden, an niederste Instinkte appellierenden Sendung aber stört sich niemand. Nachgerade verwunderlich ist, wieviel Wirrnis, Firnis und Seelenpein so ein als familienfreundlich eingestuftes Sonntagsnachmittagsprogramm parat halten und doch als einwandfrei durchgehen kann. Unbeanstandet bleiben Darbietungen wie die des monströsen Jürgen Drews, dessen Alterslosigkeit ihn als den Dorian Gray des deutschen Schlagers ausweist, darin schnurgrade Gegenstück und auch Ergänzung des angelsächsischen Kollegen Cliff Richard. Weiter gehörte zur Menagerie Todesfurcht einflößender Gips- und Schlipsköpfe eine Nadine Norelle; das ist eine Pausbäckige, haarlackierte Friseuse, die sich zu der artverwandten Samantha Fox in etwa verhält wie die Hexe zu Gretel.

Zwischendurch drängte sich allweil das jeglichem Stolz der unterprivilegierten proletarischen Masse entratende, rottenweise angetretene Fuß- und Jubelvolk hervor und entlud ganze Warenladungen von Fleurop-Restbeständen über den Künstlern, die sich darob immerhin artig mit Küßchen bedankten. Damit aber auch genug des Guten; schon schlurfte Hitparaden-Zombie Bata Illic die Ränge hinab, entblößte schamlos eine doch deutlich an Pferdephysiognomien erinnernde Leiste dritter Zähne und sang zu allem Überfluß mit lüsterner Miene „Ein Schritt zu weit“. Sic! „Er ist ein kleiner Schelm, der Bata Illic“, kommentierte Moderator Papke, und wer auf die Erziehung seiner Kinder etwas gibt, schickte sie spätestens an dieser Stelle ins Bett. So blieb ihnen zumindest der traumatische Auftritt des zerebral gestörten und bis in Mark und Knochen verkommenen Duos Klaus & Klaus erspart. Vergleichsweise harmlos erschienen da noch die Schießbudenfiguren von Truck Stop, die anscheinend als Jugendliche zuviel „Bonanza“ gesehen haben — da sieht man, wieviel Schaden ein Kind durch falsch gewählte Fernsehsendungen erleiden kann! Peter Cornelius indes, ein zotteliger Eric Clapton-Imitator aus Österreich, blieb innerhalb der Zumutbarkeitsgrenze. Dennoch hatte die Sendeleitung ein Einsehen und würgte das Geröhre und Gemöhre nach dem Auftritt der KG Strings, einer ABM- Version der Spider Murphy Gang, sang- und klanglos sowie unter Verzicht eines erklärenden Nachspanns ab. So blieb dann die vorab angekündigte Gyros-Diseuse Vicki Leandros irgendwie auf der Strecke, aber allgemein atmete man auf und war froh, diesen Ritt durch die Geisterbahnwelt des deutschen Schlagers ohne Laufmaschen im Nervenkostüm überstanden zu haben. Herr Dittmeyer

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