: Die Geisterfahrer
Requiem auf eine verlorene Generation: Markus Jensen gibt mit seinem Kindheitsroman „Oberland“ eine konsequent literarische Antwort auf die vielen bunten Erfahrungsberichte der Generation Golf
VON GERRIT BARTELS
Selbst Tote haben manchmal Glück. Zum Beispiel wenn sie noch einmal als Geister auf die Erde zurückkehren und ihr Leben erzählen dürfen. Einer dieser zumindest ein kleines bisschen glücklichen Toten ist Jens Behse, der Held von Marcus Jensens großem Kindheit- und Jugenderinnerungsroman „Oberland“. Behse jubiliert bei seinem Neustart gar darüber, sich nicht als kreischender, sabbernder und in die Hosen scheißender Zweijähriger wiederzubegegnen, sondern als fünf- oder sechsjähriges Kleinkind mit leuchtenden Weihnachtswunderkinderaugen, das 1973 mit seinen Eltern auf Helgoland Ferien macht.
Als eigentlich schon toter Ich-Erzähler ist er zudem in der glücklichen Lage, wie weiland Oskar Matzerath vorgreifen, Beobachtungen machen und Analysen erstellen zu können, die nicht mal einem besonders altklugen Fünf- oder Sechsjährigen anstehen. So weiß der kleine Jens, dass sein Vater, ein passionierter Kaffeetrinker, nach der „mustergültigen“ Revolution in Nicaragua „solidarisch deren brackiges Zeug auch noch“ trinkt. Oder dass das Prunkstück aus dessen Kindheit der Hamburger Feuersturm von 1943 ist. Er kennt auch das zukünftige väterliche Outfit, „diese feine schwarze, viel zu teure Lederweste, die künstlich abgewetzt ist, damit sie als solidarisch durchgeht, und die ihn kreativ wirken lassen soll“.
Geschlagen mit einem 68er-Vater, der stolz ist, ein Opferdeutscher zu sein und sich später als Toskanadeutscher versucht – man ahnt schnell, dass der Glücksvorrat des Jens Behse früh verbraucht ist. So ärgert er sich auch schon auf Helgoland tüchtig darüber, dass immer alles ausgerechnet mit der Kindheit beginnen muss: „Ich bereite mich später gründlich auf die Zeit vor, in der ich vierzehn bin, ich pauke Cruise Missiles, Robbenbabys, tanz-den-Adolf-Hitler, erstmal-eine-Echte-drehn, und was kommt dran? Eine prähistorische Periode. Ich ein dreikäsehohes Menschentierchen.“
Eines, das als Kleinkind nicht einmal mehr die „Kindermindestniedlichkeit“ erreicht und später nur noch als Einmetereinundneunzig-„Lulatsch“ und mit Schau-mich-nicht-an-Gesicht durch die Welt läuft. Ein Außenseiter, Misanthrop und sehnsuchtsvoll auf seinen großen Augenblick wartender Diener des Todes, der sich schließlich kurz nach dem Fall der Mauer im Dezember 1989 im Alter von 22 Jahren auf der Schleusenbrücke vor dem Hamburger Rathausmarkt mit einer Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich ins Jenseits befördert.
Bessere Zeiten würden gern mal gut klingen, sie gibt es aber in diesem Buch so gut wie gar nicht – der nicht zufällig wie sein Held Jens Behse 1967 in Hamburg geborene und in Pinneberg aufgewachsene Marcus Jensen, der vor fünf Jahren mit dem genauso aberwitzigen wie kunstvoll gebauten Millenniumsroman „Red Rain“ debütierte, kennt kein Pardon: In „Oberland“ klingen nur die schlechten Zeiten extrem gut. „Oberland“ ist nicht nur ein vom Gestus her ätzender und völlig unsentimentaler Kindheitsroman, sondern ein böses und tiefschwarzes Erinnerungsbuch, ein Anti-Bildungsroman, ein Gothic-Roman, aber ein literarisch sehr ambitionierter.
Darüber hinaus aber liest sich der Roman auch noch wie die ultimative Abrechnung eines jungen Schriftstellers mit seiner Generation. Diese bekam einst das Kürzel X hintenangestellt und bestand aus lauter talentierten, aber extrem orientierungslosen Slackern, machte als 89er-Generation so kurz wie folgenlos Geschichte und wurde zuletzt als Generation Golf berühmt und erfolgreich, ohne aber an Ansehen zu gewinnen.
Bei Jensen und seinem Alter Ego Behse hat diese Generation noch nicht einmal ein Label. Sie besteht nur aus lauter „Platzhalterjungs“, „Stopfmädchen“ und „Lückenbüßern“, aus grausam ununterscheidbaren Menschen, aus Schlappis und Schlaffis, über deren Fortkommen nach der Wende das große Schweigen gebreitet wird. Ihre einzige Bedeutung liegt für Behse „in eben unserer Bedeutungslosigkeit“, ihre Hauptaufgabe besteht darin, „für eine noch unbekannte Folgegeneration einfach der fette Nährboden zu sein, das ahnungslose Substrat“.
Trotzdem braucht Jensen diese immerhin Humus bildende Nullgeneration für seinen großen literarischen Wurf, weshalb er seinen Behse gestehen lässt: „[…] meine Phantasie hatte die Absicht, die Immergleichen komplett mitzunehmen, wichtig genug waren sie mir doch.“ Ihren gebührenden Platz findet diese Generation im voluminösen mittleren Pinneberg-Kapitel, sozusagen dem fetten Fleischstück zwischen zwei nicht weniger leckeren Brötchenhälften: zwischen Helgoland 1973, wo die Erwachsenen mitsamt ihren Kriegserinnerungen regieren, und Hamburg 1989, wo Behse die letzten Tage als Zivi im Krankenhaus abreißt und seinen Selbstmord inszeniert.
Im deprimierend kleinbürgerlichen Pinneberg dagegen erfährt er seine ihm psychisch schwer zusetzende und ihn dem Tod in die Arme treibende Sozialisation: durch die Eltern, die die bei einem Autounfall ums Leben gekommene Schlagersängerin Alexandra verehren und statt in Hamburg lieber in einer Pinneberger Hochhaussiedlung wohnen, „um sich nicht vom Volk zu entfernen“; vor allem aber durch die Mitschüler, die Generationsgenossen, die Behse gern als Liebesbriefchenboten einsetzen, ansonsten aber eher scheel anschauen; und natürlich durch die hinlänglich bekannten Requisiten der Zeit, etwa Bonanza-Fahrräder, Schneider-Poesie-Alben oder NDW-Hits wie „Goldener Reiter“ oder „Eisbär“. Bonjour Tristesse: Behse bleibt nur die Flucht ins Morbide, auf Friedhöfe, in offene Gräber, zu Séancen und suizidalen Spielereien auf dem elterlichen Balkon: eine Mischung aus Robert Smith und Ian Curtis auf Acid.
Marcus Jensen lässt, obwohl er praktisch nur die Jahre 1981 und 1982 ins Visier nimmt, fast streberhaft nichts aus an Schrecklichkeiten – interessante Gebrochenheiten und ein falsch-sentimentales Verständnis sind seine Sache nicht. Er packt lieber Detail auf Detail in eine ambitioniert vertrackte Erzählkonstruktion, in der Behse und sein Geist als komplexes oberstes Aufschreibsystem fungieren und die zahlreichen Dialoge zwischen den Lebenden, Toten und Untoten moderieren.
Insbesondere aber wenn ihm sein leeres, bedeutungsloses Ich mal wieder schwer ankommt, er durch das Gestrüpp seiner Ich-Störungen nicht durchblickt („Ich bin so aufgeregt, du ich habe meinen Text vergessen“), adressiert Behse seine Erzählung an Steff, seine Mitschülerin und große, 119 Kilo schwere Liebe. Diese zeichnet sich allein qua Gewicht als Außenseiterin aus, ohne dass sie das allerdings stören würde, zumal sie reifer als alle anderen wirkt aufgrund zahlreicher Liasons mit älteren Lovern: Ein Schelm, wer bei den 119 Kilo daran denkt, dass auch Steff nur ein Geist sein könnte, ein neues Alter Ego des ein Meter einundneunzig großen Behse. Dass aber gehört hier mit dazu: „Oberland“ lädt ausdrücklich dazu ein, Geisterbahn zu fahren, sich in Zahlenspielereien zu versenken oder einfach nur „Ah-Oh-Ah-Oh-Sllpp-Sllpp“ zu schreien. Jensens Roman entbehrt auf diese Weise eines zentralen erzählerischen Sujets oder einer echten Romanhandlung, was aber nur konsequent ist: Was soll ein 22-Jähriger aus Pinneberg schon groß erlebt haben? Was soll überhaupt so eine trübe Generation an erzählerischem Mehrwert abwerfen?
Geradezu Modellcharakter bekommt der Roman, wenn Behse sich zwar über das brave Tagebuchschreiben und Poesiealbumführen seiner Mitschüler köstlich amüsiert und erhebt. Er dann aber immer wieder selbst seine fünfhundert Blatt unschuldiges Papier zum Schreiben braucht, um das „Diary Of A Dead Young Man“ zu führen – so ist „Oberland“ nicht nur ein Requiem auf eine verlorene Generation, sondern auch eine fulminante literarische Antwort auf die selbstgenügsamen, quietschbunten und eindimensionalen Generationsbücher und Gebrauchsanweisungen der Illies, Marquardts oder Jochimsens.
Marcus Jensen: „Oberland“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004, 506 Seiten, 24,90 €