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Die Geige geblasen, das Klavier gezupft

■ Avantgardistisches zu „Hören und Sehen“ beim Festival „Fließende Grenzen“

Wem bei dem Wort „Gegenwartsmusik“, sagen wir: HipHop und Neofolk einfällt, wird gegenwärtig eines Besseres belehrt. Das „Festival der Gegenwartsmusik“, das unter dem Titel Fließende Grenzen noch bis zum 21. November auf Kampnagel stattfindet, dreht sich um freie musikalische Improvisationen und neoavantgardistische Schrägtönerei. In diesem Rahmen zeigte die Veranstaltung „Hören und Sehen“ am Wochenende grafische Partituren, Werke also, die nicht auf das traditionelle Notationssystem zurückgreifen, sondern durch alle möglichen grafischen Techniken musikalische Assoziationen hervorrufen wollen.

Was das Sehen betrifft, waren einige interessante Bilder darunter. Andere sahen wie Comics aus. So weit, so hübsch. Aber muß man das Wort von der „Befreiung von den Zwängen musikalischer Schriftkultur“, von der Peter Niklas Wilson im Ausstellungskatalog schreibt, bemühen? Spätestens bei den Arbeiten Hannes Wienerts, der etwa in seiner Partitur „Etüde in Haar-Moll“ Haare akkurat verteilt auf ein Notenblatt klebte, steht die avantgardistische Pose der Befreiung ohne Kleider da: sich witzelnd die Zeit vertreibend.

Und was ist mit dem Hören? Wie führt man so etwas auf? Das zu demonstrieren, schickten sich am Freitag der britische Experimentalmusiker Keith Rowe sowie das Improvisationsensemble Transtonal an. Mit Cornelius Cardews Partitur „Treatise“ hatten sie sich dazu ein sehr elaboriertes Werk der Gattung ausgesucht. Auf 200 Seiten hat der ehemalige Stockhausen-Assistent um eine durchgängige Mittellinie herum Striche, Kreise, Punkte und Linien angeordnet. Dies interpretierten die Musiker mit genuin musikalischen Mitteln... Äh, sie reagierten auf die grafischen Konstellationen mit freien Assoziationen... Sie gaben der „Musik, die die Partitur selbst ist“ (Cardew), ihre eigene Musik hinzu... Jedenfalls starrten sie auf die Papiere und zupften nebenher frei assoziierend am Klavier, klimperten auf der Gitarre und bliesen in die Geige.

Irgendwie war's avantgardistisch. Ein wenig autistisch war's auch, denn keiner der Musiker ließ sich von den anderen stören. Vor allem aber war's frei. So frei, daß selbst die Zeit, sich auf die Partitur einzulassen, allein dem Gewissen der Musiker überlassen war. Vor jedem Spieler stand ein Licht. Das schalteten sie aus, wenn sie sich genug eingelassen hatten. Als erstes erlosch das Licht des englischen Meisters. So ließ sich lernen: In fremden Ländern hat man für Avantgardistisches weniger Zeit. Dann erloschen die anderen Lichter. So wurde es allmählich dunkel um die Avantgarde. Und das Publikum leuchtete sich selbst nach Haus. Dirk Knipphals

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