Die Geburtsstation schließt: Das letzte Tölzer Kindl?

Überall in Deutschland schließen Kreißsäle – auch in Bad Tölz. Wie sieht die Situation vor Ort aus? Kann es noch eine Lösung geben?

Für jedes geborene Kind ein Stück Stoff: Pro Jahr kommen in Bad Tölz 530 Kinder zur Welt Bild: Paul Toetzke

von PAUL TOETZKE

Patrick, Michael und Luise sind schon geboren. Tölzer Kindl. Ein buntes Tuch, 100 Meter lang, mit ihren und vielen anderen Namen schmückt das Pfarrheim Heilige Familie in Bad Tölz. Für jedes geborene Kind ein Stück Stoff, aneinandergenäht zu einem Band. „Das sollte so lang werden, dass wir damit den Reichstag umhüllen können“, scherzt eine Frau, selbst Großmutter von zwei Kindern, und reicht ihrem Schwiegersohn ein paar Reiszwecken. Die beiden helfen gerade bei der Vorbereitung für die abendliche taz.meinland-Veranstaltung.

Ein Zeichen setzen und Widerstand zeigen – auch darum geht es an diesem Abend. Widerstand gegen die Schließung der Geburtenstation der Asklepios-Klinik in Bad Tölz. Dort wird ab dem 1. April kein Kind mehr geboren werden. Die Schließung ist bereits besiegelt. Etwa 550 Geburten gibt es pro Jahr in Bad Tölz. Zu wenig, um die Geburtenstation erhalten zu können, erklärt der Betreiber.

Doch hier will man das nicht einfach hinnehmen. Die Bad TölzerInnen protestieren. Inzwischen berät der Kreistag über einen Zusschuss des Landes. 1,8 Millionen Euro wären laut Asklepios nötig, um eine vorläufige Weiterversorgung zu garantieren. Am Freitag, den 24. März, stimmte der Kreistag darüber ab.

Die Abstimmung kam zu plötzlich

Es ist der Abend vor der wichtigen Entscheidung, taz.meinland ist zu Besuch im Pfarrheim Heilige Familie in Bad Tölz. Es sollen die Menschen zu Wort kommen, die direkt betroffen sind, vor allem Mütter. Aber es geht auch um die Frage: Wie geht es weiter?

Das Publikum ist gemischt. Viele Mütter sind gekommen, einige Kinder krabbeln zwischen den Tischen umher. Etwa 50 Menschen sind der Einladung gefolgt. Auch das Bayrische Fernsehen ist vor Ort, um ein paar Stimmen einzufangen.

„Ich möchte nicht Schuld sein, wenn eine Mutter ihr Kind im Auto gebärt.“

taz-Moderatorin Ann-Kathrin Liedtke befragt zunächst Gemeinderatmitglied Dr. Ingo Mehner, der auch im Klinik-Ausschuss sitzt, nach den aktuellen Entwicklung. „Morgen geht es ans Eingemachte“, sagt Mehner, „aber es geht nicht um ja oder nein. Es gibt nur ein Ja, wir wollen weiterhin eine Geburtstation in Bad Tölz haben.“ Applaus aus dem Publikum, darüber sind sich hier fast alle einig. Aber Mehner kritisiert auch, dass die Sitzung nicht schon vor einem Jahr stattgefunden hat. Jetzt sei es eigentlich schon fast zu spät.

Auf der Suche nach Lösungen

Klar ist: Man kann nicht einfach eine neue Klinik bauen. Aber 1,8 Millionen Euro an Asklepios überweisen – ist das die Lösung? Mit am Tisch sollte eigentlich der Geschäftsführer von Asklepios, Dr. Joachim Ramming, sitzen. Stattdessen ist Pressesprecher Christoph Horn gekommen. Dr. Ramming sei erkrankt, erklärt er.

Im Publikum sorgt das für Gemurmel. Man hat das Gefühl, der Geschäftsführer wolle sich vor kritischen Fragen drücken. Christoph Horn erklärt, dass die 1,8 Millionen Euro nötig seien für den Erhalt der Klinik. Aber auch das sei nur zu schaffen, wenn man mit anderen Kliniken, zum Beispiel in Agatharied oder Garmisch kooperiere. Da gebe es schon konkrete Angebote.

„Wir hoffen morgen auf ein Signal aus der Politik“, sagt er. Zu denen, die am Freitag über den Zuschuss abstimmten, gehört Günther Fuhrmann. Er ist Kreistag-Abgeordneter für die FDP und möchte eine Zahlung des Landkreises verhindern. Er habe erst am 10. Januar von den Plänen der Asklepios-Klinik erfahren, sagt er. Viele der Abgeordneten wüssten nicht gut genug Bescheid, da die Abstimmung so plötzlich komme. „Ich finde das nicht nachvollziehbar von Asklepios“, fügt er hinzu, „2015 hatte Asklepios drei Milliarden Euro Umsatz, sie investieren inzwischen in Shanghai. Wie kann das sein, dass sie hier die Geburtsstation schließen müssen?“ Auch er erntet den Applaus des Publikums.

Gute Nacht, Deutschland?

Doris Wallé ist seit 26 Jahren Hebamme in der betroffenen Geburtenstation in Bad Tölz. Viele hier im Saal kennen sie, einige der umherlaufenden Kinder wurden mit ihrer Hilfe auf die Welt gebracht. „Ich werde dieses Jahr 60“, sagt sie, „Ich wollte das eigentlich so lange machen wie ich körperlich dazu in der Lage bin. Aber jetzt wird mir gesagt: Für dich ist Schluss.“

„Wenn Männer Kinder kriegen würden, würden wir über dieses Problem wahrscheinlich nicht sprechen.“

Heute auf den Tag genau habe sie von der Schließung erfahren. Ab dem 1. April ist sie ihre Stelle los. Danach will sie sich auf die Nachversorgung von Kindern konzentrieren. Trotzdem hat sie sich nicht damit abgefunden. „Wir müssen dagegen kämpfen“, ruft sie ins Publikum, „das passiert bundesweit. Wenn das so weiter geht, dann: Gute Nacht, Deutschland!“ Tosender Applaus.

Dr. Stephan Krone ist der betroffene Belegarzt in der Klinik. Ihm ist es überhaupt zu verdanken, dass die Geburtsstation im Moment noch aktiv ist, denn er verlängerte kurzfristig. Er kann die Rechnung von Asklepios nicht nachvollziehen, die Geburtsstation habe den Betreiber schließlich kaum etwas gekostet. „400.00 Euro Miese? Das sind Fake News“, sagt er. Die Geburtsstation in Bad Tölz sei auch ein Werbefaktor. „Die Menschen sind begeistert, da kommen Eltern aus anderen Orten. Die ganze Bevölkerung trifft sich dort“, fügt Krone hinzu.

Christoph Horn stimmt zu, dass die Belegschaft herausragend gewesen sei. Allein letztes Jahr gab es dort 530 Geburten. „Wir hätten gern weitergemacht, aber uns war klar, dass es nur eine Übergangslösung ist“, erklärt er. Denn das Belegsystem an sich sei am Aussterben.

Überbrückungsversorgung fehlt

Eine Meldung aus dem Publikum. Barbara Schwendner ist Kreistags-Abgeordnete für die Grünen und fühlt sich nicht gut genug informiert vor der morgigen Abstimmung. Deswegen habe sie eine Frage an die Runde: „Wenn die Klinik schließt, ist die Geburtenversorgung im südlichen Landkreis nicht mehr gesichert. Gibt es eine Chance, diese Versorgung zu gewährleisten? Welche Bedingungen für eine solche Überbrückung gibt es?"

Christoph Horn erklärt, dass das Bayrische Gesundheitsamt angegeben habe, dass die Versorgung geregelt sei. Abgesehen davon hätten die Ärzte bereits gekündigt. „Ich bin da, machen Sie mir ein Angebot“, entgegnet ihm Dr. Krone. Bisher konnten sich Asklepios und der Arzt nicht einigen. Dr. Krone lehnt es ab unter den bisherigen Bedienungen – einer Doppel- und Dreifachbelastung, wie er sagt – der Klinik erhalten zu bleiben, wenn sie sowieso geschlossen wird.

Eine Übergangsversorgung gibt es ab April also nicht. Dann müssen Frauen im Notfall mit dem Rettungswagen in die nächste Geburtsklinik gebracht werden. Auch ein Transport mit dem Hubschrauber sei möglich. Für viele hier eine Horrorvorstellung. Gerade für die werdenden Mütter. 

Jana Kießling ist Mutter von zwei „Tölzer Knaben“ und Mitglied des Mother Hood e.V., einem Verein, der sich für sichere Geburten einsetzt. Sie findet, dass die Stimme der Eltern bisher kaum gehört werde. Von der Politik komme keine Antwort, stattdessen gebe es ein „Gesetze-Wirr-Warr“. Sie wünscht sich weiterhin eine Eins-zu-Eins-Kinderbetreung.

Geld für Geburtsstation statt Autoindustrie

Eine werdende Mutter aus dem Publikum meldet sich zu Wort. Ihr Entbindungstermin ist am 30. März und sie ist sichtlich berührt von der Debatte. „Um Mitternacht wird entschieden, ob mein Kind in Tölz geboren wird oder nicht“, sagt sie. Sie habe sich inzwischen für die Klinik in Wegeried entschieden. Doch da kenne sie die Hebammen nicht, fühle sich in dieser Situation unwohl.

Bundesweit schließen immer mehr Kreißsäle. Wie es in Bad Tölz aussieht und was die werdenden Mütter vor Ort sagen, erfahren Sie in unserer Reportage.

Ein älterer Mann fügt hinzu, dass es darum gehe, dass Geburten weiterhin sicher sein müssen. Dauernd würden gegensätzliche Informationen kursieren. Er wüsste nicht mehr, was er glauben solle und was nicht. Eine Stadträtin aus Bad Tölz empört sich darüber, dass der Kreistag erst im Januar informiert wurde. „Wie kann das sein? Ich möchte nicht schuld sein, wenn eine Mutter ihr Kind im Auto gebärt“, sagt sie. Auch das gab es schon in anderen Gemeinden. Denn die Fahrtzeiten werden immer länger.

Klar jedenfalls ist, dass hier über ein bundesweites Problem gesprochen wird. Eine Frau aus der ersten Reihe möchte wissen, wer das „in der großen Politik“ anspricht. „Geld für die Rettung der Banken und der Autoindustrie gibt es doch auch. Aber diese Arbeitsplätze gibt es dann eh nicht mehr, wenn keine Kinder mehr geboren werden“, ruft sie vorwurfsvoll. Das Publikum klatscht.

Überzeugt von dem Zuschuss für Asklepios ist hier niemand. Zu hoch sei das Risiko, zu gering das Vertrauen in den Betreiber. „Es wird nicht bei den 1,8 Millionen bleiben“, glaubt Günther Fuhrmann. „Irgendwann werden es 9 Millionen.“ Die Suche nach Kooperationskliniken in der Umgebung scheint unumgänglich.

Geht es nur ums Geld?

Eine junge Frau sieht eine Strategie in Asklepios' Verhalten. „Die schließen in ganz Deutschland Geburtskliniken“, sagt sie. Warum suche man nicht nach einem anderen Träger? Das Potential sei da, die Nachfrage sowieso, und schließlich lebe man in einer wunderschönen Region. Da müsse es doch auch Ärzte geben, die hier arbeiten wollten. 

Aus weiteren Beiträgen schwingt das Gefühl mit, es sei sowieso schon alles beschlossen. Viele hier fühlen sich ungehört. Die Bad TölzerInnen wollen keine ähnliche Situation wie in München. „Da werden Frauen abgewiesen, teilweise muss man sich schon in der fünften Woche nach einer Klinik umschauen“, erzählt Jana Kießling. Eine andere Zuschauerin schlägt vor, eine Stiftung zu gründen und so die Politik zu beeinflussen. Viele im Raum stimmen ihr zu. Eine Hebamme gibt noch zu Bedenken: „Wenn Männer Kinder kriegen würden, würden wir über dieses Problem wahrscheinlich nicht sprechen.“

Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas, wird auch immer wieder gelacht. Aus der Küche meldet sich eine 87-jährige Frau zu Wort: „Es geht wieder nur ums Geld!“ Tatsächlich ist die Finanzierung ein großes Thema bei der Diskussion. Zu viel? Zu wenig? Macht das überhaupt Sinn? Einen Tag nach der Veranstaltung stimmte der Kreistag mit „Nein“ – mit großer Mehrheit. Statt der von Asklepios geforderten Summe zuzustimmen wurde beschlossen: Der Landrat wird beauftragt, Verhandlungen mit geeigneten Klinikbetreibern zu führen. Die Geburtenstation wird also geschlossen – doch die Debatte weitergeführt.