: Die Funktion einer Drohung
■ Der Kaschmir-Konflikt im politischen Kalkül zweier Nationen
Der indische Ministerpräsident V.P. Singh und seine pakistanische Amtskollegin Benazir Bhutto teilen sich nicht nur den bis 1947 geeinten indischen Subkontinent; gemeinsam ist ihnen seither auch der Kampf um die jeweilige nationale Integrität. Die größte Demokratie der Welt und das Land der Reinen werden seit ihrer Entstehung von kommunalistischen Bewegungen gebeutelt. So wollen sich weder die indischen Sikhs im geteilten Punjab noch die Sindhis in der pakistanischen Südprovinz, geschweige die Belutschen oder die Pathanen in der Nord-West-Provinz der mit der Separation verordneten neuen nationalen Identität und Sprachregelung unterordnen und ihr Selbstbestimmungsrecht an die Direktiven der Zentralgewalt abtreten.
Die jüngsten massiven Kriegsdrohungen sind nicht nur das Resultat der indisch-pakistanischen Separation; sie dienen vielmehr deren Perpetuierung. Ohne den Fingerzeig auf den benachbarten muslimischen Feind hätte V.P. Singh, der sich ja von der Großmachtpolitik seines Vorgängers Gandhi gerade erst losgesagt hatte, wenig Legitimation dafür, die erneute Aufstockung seines Militärbudgets durchzubringen. Schon der andauernde Punjab-Konflikt ließ das indisch-pakistanische Teilungstrauma nicht in Vergessenheit geraten, erfüllte mithin nicht zuletzt einen staatstragenden und staatserhaltenden Zweck. Doch wenn nun zudem das mehrheitlich von Moslems bewohnte Jammu Kaschmir seine Unabhängigkeit von dem säkularisierten Hindustaat fordert, werden die Kosten für diese „Erinnerungsarbeit“ womöglich zu hoch. Der Verlust der geostrategisch hochsensiblen Region am Dach der Welt ist für Neu-Delhi undenkbar.
Der Vorwurf, Pakistan unterstütze die Separationsbewegung, liegt indes mehr als nah. Selbst wenn es unter Benazir Bhutto keine militärischen Trainingslager mehr für die Sezessionisten geben sollte wie noch unter dem fundamentalistischen General Zia-ul-Haq. Jene Geheimdienst und Waffenschieberkreise, die am Afghanistan-Konflikt anhaltend und gut verdient haben, schauen sich schon länger nach einem neuen Konfliktherd um. Und Benazir Bhutto - die erste Frau an der Spitze eines islamischen Staates - ist, wenn nicht die militärische, so doch die ideologische Unterstützung der Glaubensbrüder im indischen Norden schuldig - und dies in erster Linie ihren politischen Gegnern im eigenen Land.
Ob sich die pakistanischen Militärs von einer Frau in den Krieg führen lassen, wird sich zeigen. Der Aussöhnungskurs mit Rajiv Gandhi hatte Benazir Bhutto im ersten Amtsjahr außen- wie innenpolitisch Freunde gebracht. Ob sie dafür in V.P. Singh auch weiterhin den richtigen Partner hat, bleibt abzuwarten.
Simone Lenz
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