: Die Frau im Ohr
Mit der Gruppe Monsoon brachte es Sheila Chandra einst bis in die Charts. Seitdem sucht sie sich ihren Weg zwischen Avantgarde und New Age
von DANIEL BAX
Tak Dhin Terikete Dhin. Die Töne der Tabla, der indischen Handtrommel, haben einen ganz eigenen Klang. Der stakkatohafte Bol-Gesang ist die südindische Kunst, den Rhythmus des Tablaspiels in Lauten nachzumalen. Die Sängerin Sheila Chandra hat sich diese Fertigkeit, in Indien eine Männerdomäne, autodidaktisch angeeignet und die rein onomatopoetischen Passagen auf ihren letzten Alben immer mal wieder eingestreut.
„Das war von Anfang an mehr ein Witz. Es sollte ein Gegengewicht bilden zu den langsamen, lyrischen Melodien, die sonst bei mir überwiegen“, erläutert Sheila Chandra. Was lediglich der Auflockerung diente, kam aber einem Millionenpublikum zu Ohren, als MTV eine dieser Passagen im Jingle seiner Antirassismus-Kampagne „Free your Mind“ verwendete. Weit entfernt von dem, was sonst auf dem Musiksender zu hören ist, erregte der kurze Moment ausgefallener Vokal-Kaskaden Aufmerksamkeit bei Remix-Produzenten und Werbeagenturen, die Geschmack an dem exotischen Sample fanden. „Dieses kleine Stück wird recht oft als Sample nachgefragt“, bestätigt Sheila Chandra. „Ich glaube, die Leute mögen ihn, weil er so spielerisch klingt.“
Und so exotisch, natürlich. Denn eigentlich passt die Musik, die Sheila Chandra macht, so gar nicht ins Format von Reklamespots und Musiksendern, auf denen schnelle Hits heißlaufen. Es sind eher meditative, entrückte, reduzierte Skizzen aus Stimme und Klang, für die sie bekannt ist. Im Laufe ihres Werdegangs entfernte sie sich so immer weiter von der Welt des Pop, wo ihr Weg einst begann.
Schon im zarten Alter von 16 Jahren präsentierte sie 1982 mit ihrer damaligen Gruppe Monsoon in der britischen Charts-Show „Top of the Pops“ ihren Song „Ever So Lonely“, der flugs in die britischen Top Ten aufstieg. Lange bevor Trendbegriffe wie „Weltmusik“ oder „Asian Underground“ überhaupt erst erfunden waren, hatten „Monsoon“ mit ihrer innovativen, indisch angehauchten Fusion von Tabla und Sitar mit Gitarre und Schlagzeug Erfolg. Damals stand die Band damit noch ganz allein auf weiter Flur. Die erste Generation indischer Einwanderer war noch damit beschäftigt, sich mit Restaurants oder Eckläden eine Existenz in England aufzubauen – und der Nachwuchs war noch nicht alt genug, der neuen Heimat einen eigenen musikalischen Stempel aufzudrücken.
Ursuppe aller Geräusche
Einer Karriere als Kinderstar des Ethno-Pop schien bei Sheila Chandra damals, Anfang der 80er, nichts im Wege zu stehen. Doch Monsoon war kein langes Leben beschieden: Unter dem Druck der Plattenfirma, die sich einen raschen Folgehit erhoffte, fiel die Band auseinander. Sheila Chandra zog sich aus dem Rampenlicht zurück, um auf dem „Indipop“-Label ihres musikalischen Weg- und Lebensgefährten Steven Coe zunehmend introspektive, ruhige Alben zu veröffentlichen. 1992 wechselte sie, mit 26, zur Plattenfirma Real World, die Peter Gabriel als Plattform für anspruchsvolle Weltmusik gegründet hatte, und entpuppte sich dort überraschend als eines der Zugpferde des noch jungen Labels – obwohl sie sich kaum um besondere Zugänglichkeit bemühte.
Auf „Weaving my ancestors voices“, ihrem ersten Album bei Real World, verwob sie noch indische, irische und islamische Gesangstraditionen zu neuen Formen, die wie Fingerübungen im Fach Vokaltechnik klangen. Auf den folgenden Alben aber widmete sie sich verstärkt den Elementarteilchen der Musik, der Essenz; sie forschte nach Schwingungen, Atmosphäre, Resonanzen, und landete letztlich in der Ursuppe allen Geräuschs, den Drones. In dieser Zeit lernte sie auch den reinen Lärm japanischer Noise-Musik zu schätzen. „Diese Musik hat nicht unbedingt viel Struktur, aber sie besitzt einen enormen Reichtum an Harmonien. Drones sind organische Klänge, und Noise ist roher, schmutziger, mechanischer Krach. Aber beide Extreme haben einen gemeinsamen Kern“, stellt sie fest. Diese Hörerfahrung trübte allerdings kaum die meditative Ruhe ihrer Musik, und bei ihren ausgiebigen Wanderungen über die Dünen des Klangs bewies sie einen erstaunlich langen Atem. „AboneCroneDrone“, der letzte Teil ihrer Real-World-Trilogie, bestand fast nur noch aus kosmischem Summen und waberndem Dröhnen, aus Flüstern und Atmen. Nur Stimme. Nur Sound.
Wire, das englische Magazin für experimentelle Musik, krönte sie für ihre Symbiose aus Ambient und östlicher Ästhetik zur „Königin der Drones“ und rühmte sie als Künstlerin im Geiste John Cages, der einmal von der Unmöglichkeit vollkommener Stille gesprochen hatte, weil doch das zirkulierende Blut für ein stetes Pochen im Ohr sorgt. Sicher aber wäre ihr Ansatz ganz nach dem Geschmack eines Joachim-Ernst Berendt gewesen, der das Wesen der Welt im Klang philosophisch zu ergründen versucht hatte. Eine Musik jedenfalls, von der Sheila Chandra weiß, dass sie sich nicht besonders gut für Cocktail-Partys eignet. „Für diese Musik braucht es die aktive Beteiligung des Hörers. Wenn man es nicht gewöhnt ist, muss man schon sehr genau hinhören. Sonst entgehen einem die subtilen Nuancen. Und die sind ein Teil der Erfahrung.“
„This sentence is true (The Previous one is false)“ ist Sheila Chandras erste neue Veröffentlichung seit fünf Jahren, und in mehrfacher Hinsicht ein erneuter Einschnitt. Schon die Aufmachung deutet auf einen Bruch hin: Statt vom Weichzeichner verschwommen, erscheint ihr Gesicht auf dem Cover von harten Streifen durchzogen wie bei einer Bildstörung: ein bewusster Kontrast zum Hochglanz-Image ihrer Alben bei Real World, und tatsächlich erscheint das Album nun auf dem „Indipop“-Label ihres Partners Steve Coe, das dieser in den letzten Jahren reaktivierte, um alte Aufnahmen von Sheila Chandra wieder zu veröffentlichen und anderen neuen Künstlern eine Gelegenheit für Sologänge zu bieten.
Zen und Nonsens
Das Zen-Paradox im Titel will, wie auch die Nonsenstexte im Booklet, paradigmatisch gelesen werden: Inhalt ist nichts. Oder, wie der Medienguru Marshall McLuhan, Entdecker der magischen Kanäle, einst befand: Das Medium ist die Botschaft. Dass der Kontext über das Gewicht einer Aussage entscheiden kann, ist Sheila Chandra bei einem Auftritt im Olympiastadion von Alma Ata, Kasachstan, bewusst geworden. So vermag allein schon die Akustik von Stadionlautsprechern dem gesprochenen Wort Macht und Autorität zu verleihen, hat sie festgestellt.
„This Sentence is true“ steckt voll solcher in Wohlklang gegossener Gedanken, die sich im Booklet etwas aufregender lesen, als sie letztlich in Musik umgesetzt werden. Die klingt, trotz leiser Flirts mit Elektronik und Ambient, mit ein wenig gregorianischem Gesang und ein wenig Gospel, wieder so sakral wie gewohnt, auch wenn absichtsvolle Schlieren im Klangbild gezogen wurden: Frequenzstörungen im Äther. Der Rest ist Rauschen.
Optische Verwandlung und die experimentellen Spielereien könnten vielleicht versprengte Radiohead-Fans auf ihre Spur bringen. Doch der Verdacht liegt nahe, dass sich vor allem New-Age-Schwärmer für ihre akustischen Aquarelle begeistern. Wer eigentlich Sheila Chandras Publikum ist, lässt sich aber nicht so leicht bestimmen. Sie selbst hält „Länder mit einer progressiven Radiolandschaft“, wie vor allem die USA mit ihrem Netzwerk alternativer College-Radios, für besonders fruchtbaren Boden. Dort jedenfalls wird ihre Musik am meisten gespielt, besprochen und gekauft.
Mit den gegenwärtigen Protagonisten der Londoner DJ-Szene, die auch zur zweiten Generation indischer Einwanderer zählen, hat sie nur wenig gemein: „Der Asian Underground ist ein sehr urbanes Phänomen, er passiert in den Clubs von London“, grenzt sie sich ab. „Ich wohne dagegen hundert Meilen westlich der Stadt, und schaue auf die Türme der Kathedrale von Glastonbury – sehr königlich, sehr abgeschieden, sehr pastoral.“
Was aber nicht heißt, dass Sheila Chandra nicht von dieser Welt ist: Sie hört nicht nur indische Klassik, sondern auch Pop – „alles, das gut geschrieben ist oder einen kunstvollen Gesangsstil aufweist. Gelegentlich höre ich mir auch gerne Mariah Carey an – weil sie technisch so versiert ist“. Eine Rückkehr zum Pop schließt sie aber aus. Und selbst die vielen Anfragen, ihre Stücke zum Remix freizugeben, lehnt sie meist kategorisch ab. „Da wird dann einfach ein Beat unterlegt, und das war’s dann“, findet sie. „Aber wenn ich einen Dance-Remix von mir veröffentlicht sehen möchte, dann kann ich das besser gleich selbst tun.“ Eine weitere Metamorphose der einsamen Stimme ist also durchaus noch drin.
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