: Die Fortsetzung alter Unternehmertaktik
■ betr.: „Der Angriff auf den Kör per“ (Die Gewerkschaften haben die volle Lohnfortzahlung gerettet. Der Einstieg in den Thatcherismus fand nicht statt), taz vom 13. 12. 96
Das, was Barbara Dribbusch uns in ihrem Artikel erzählt, paßte gut in ein Flugblatt der IG Metall, mit dem sie die Abschlüsse den Mitgliedern verkaufen muß. Etwas mehr auf Schlagworte umgestylt, könnte es genau die Argumentationskette der Gewerkschaft sein. Nur es stimmt natürlich hinten und vorne nicht.
Ich halte nichts davon, in Deutschland von Thatcherismus zu reden, weil die Ausgangsbedingungen doch sehr verschieden sind, die Historie, das sozio-kulturelle Umfeld, die Gewerkschaftsstrukturen und Ideologien. Bei den Angriffen der Kapitalisten in Deutschland auf die Besitzstände der Lohnarbeiter (Arbeiter und Angestellte) spielt die Ideologie von der „sozialen Marktwirtschaft“ und der „Sozialpartnerschaft“ eine große Rolle. Selbst nachdem die soziale Bedrohung aus dem Osten weggefallen ist, die real natürlich schon lange keine mehr war, ideell aber immer noch ihre Wirkungen zeitigte, waren die ersten Schritte der Unternehmer in Richtung soziale Wende noch sehr zögerlich.
Zögerlich, doch wirksam. Ungefähr Mitte der 70er Jahre, mit der beginnenden Massenarbeitslosigkeit, begann schon der Rollback. Erstes Zeichen, daß die Gewerkschaften dies zu spüren begannen, waren die für sozialdemokratische Gewerkschafter ungewohnten Demonstrationen gegen die Schmidt- Regierung. Es hat jetzt keinen Zweck, die ganze Skala der sich langsam, aber sicher verdichtenden Unzumutbarkeiten, die man der Lohnarbeit aufzudrücken begann, aufzuzählen. Die Unternehmer, die im Grunde jede Regierung, auch die Sozialliberale, als ihre Regierung verstehen, gingen sofort den Weg auch über Einschnitte bei der Sozialgesetzgebung, die unter anderem das „Faulenzen“ unangenehmer machen und ihnen, so die Hoffnung, billige Arbeitsplatzkonkurrenten vor die Werktore treiben sollten.
Das Intermezzo mit der 35-Stunden-Woche, die Verwirklung zog sich fast 20 Jahre hin und hat natürlich auch nicht die versprochenen Arbeitsplätze geschaffen, war nicht so gegen die Interessen der Unternehmer, wie es zunächst schien. Nur die Kosten scheuten sie, die zeitmäßige Verwirklichung, die ihnen den Einstieg in die erstrebte Flexibilisierung brachte, das war schon ihr Erfolg. Flexi war jetzt eingeführt!
Ansonsten verging kein Jahr, in dem die Unternehmer nicht weitere unverschämte Forderungen gegen die Lohnarbeiter vom Stapel gelassen hätten. Jeder, der das ohne Scheuklappen beobachtete, erkannte bald die Art und Weise, wie man vorzugehen gedachte, Forderungen wurden gestellt, noch bevor die Gewerkschaften aus den Löchern gekommen waren, oder gegen Gewerkschaftsforderungen aufgestellt. In den Medien, wo man ohnehin die „Wirtschaft“ sehr viel häufiger sieht als die Gewerkschaften, wobei man nicht weiß, ob das nicht vielleicht ein Vorteil ist, weil soziale Dummheit abschreckend wirken kann, wurden die Parolen der Unternehmer publikumsgerecht durchgekaut, die Gewerkschaft in ihrer Verzweiflung polterte dagegen, Gespräche begannen, die Regierung mahnte offen oder versteckt, aufeinander zuzugehen, Verhandlungen wurden aufgenommen, schließlich verzichteten die Unternehmer auf einige Schrecklichkeiten und setzen nur das, was sie realistisch als durchsetzbar erkannt hatten, durch.
Welch ein Erfolg für die Gewerkschaften, die wieder einmal das Schlimmste verhütet hatten und den Streik, den „wir doch nicht wollen, Kollegen“, vermeiden konnten. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat, da ist Dribbusch zuzustimmen, einen sehr hohen Symbolwert, vor allem bei aktiven Gewerkschaftern. Und lange Streiks oder auch nur die Produktion beeinträchtigende Auseinandersetzungen werden derzeit bei den Unternehmen wegen der „vielleicht“ anspringenden Konjunktur als kontraproduktiv betrachtet. Aber die Berechnungsgrundlage haben sie angeknabbert, und hier und da, wie Dribbusch ja ebenfalls bestätigt, ein paar Prozente geholt. Sicher wird das nicht jeden Hardliner bei den Unternehmern befriedigen, es ist aber die Fortsetzung der alten Unternehmertaktik: anständig reinhauen, Angst machen und dann mit dem Erreichbaren davonziehen, bis zum nächsten Mal.
Das Gesetz ist nun mal durch, und das macht auch die SPD nicht mehr rückgängig, mit wem sie auch immer in eine Koalition geht, wenn es überhaupt dazu kommt. Für den Rest der Lohnarbeiter in den anderen Branchen und in vielen Betrieben ohne Tarifvertrag, die ohnehin schlechtere Bedingungen zu ertragen haben, wird es keinen Fortschritt mehr geben. Das ist natürlich kein Thatcherismus, das ist die deutsche Sozialpartnerschaft, die partnerschaftlich die Arbeitsbedingungen an das europäische Niveau herunterpaßt! Klaus W. Kowol, Gummersbach
Schön wäre es, wenn dank der entschiedenen Gegenwehr wirklich nirgendwo mehr etwas von den am 13. 9. 96 von der Koalitionsmehrheit beschlossenen Kürzungen der Lohnersatzzahlungen zu sehen und vor allem zu spüren wäre. Weit gefehlt, und zwar merkt dies jeder Mensch, der länger als sechs Wochen, das heiß schwer sowie meist chronisch krank ist, ab 1. 1. 97 besonders drastisch.
Neben der Kürzung der Lohnfortzahlung auf rund 80 Prozent des Bruttoeinkommens wurde nämlich ab dem genannten Zeitpunkt auch eine Reduktion des schon immer nur rund 80 Prozent des Bruttoeinkommens betragenden von der Krankenkasse bezahlten Krankengeldes auf 70 Prozent des Brutto- und maximal 90 Prozent des Nettoeinkommens beschlossen. Wenn man sich vorstellt, daß viele dieser kranken Personen wegen der Gegenwehr der Gewerkschaften im Moment immer noch 100 Prozent Lohnfortzahlung erhalten, wird klar, was für ein ökonomischer Absturz diesem Personenkreis jetzt bevorsteht. Aber auch für die Personen, die bisher schon Krankengeld bezogen haben, ist die Absenkung von 80 Prozent auf 70 Prozent Anteil am Bruttoeinkommen sofort und nachhaltig spürbar. Da der Informationsstand über diese Variation von Sozialabbau trotz einiger Veröffentlichungen der Krankenkassen äußerst dürftig ist, wird die Betroffenheit um so größer sein.
Die insgesamt festzustellende öffentliche Ignoranz oder Unkenntnis über die unmittelbar bevorstehende Verschlechterung der sozialen Lage von eindeutig langwierig und schwer erkrankten Personen zeigt, daß und wie die überproportionale materielle Belastung kranker Menschen offensichtlich selbst nur noch teilweise erkannt und bekämpft wird. Wenn man nur lang genug nicht oder gar nicht mehr im Arbeitsleben steht, ist man offensichtlich auch aus Abwehrreaktionen „draußen“!? An dieser Tendenz mitverantwortlich sind aber auch die mittlerweile für Experten wie Betroffene unüberschaubare Fülle von parallelen oder geschickt erst über mehrere und nach mehreren Jahren kumulativ zustande kommenden Verschlechterungen. Hier handelt es sich zugleich um einen drastischen Verlust an Prognosefähigkeit, Verläßlichkeit und demokratischer Transparenz der Gesundheits- und Sozialpolitik. Dr. Bernhard Braun, Zentrum
für Sozialpolitik, Uni Bremen
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