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Archiv-Artikel

„Die EU muss eine große Trotzreaktion der Türkei vermeiden“, sagt Anke Stock

Die Türkei hat enorme Anstrengungen zur besseren Einhaltung der Menschenrechte unternommen

taz: Frau Stock, die EU-Kommission will Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnehmen. Was empfehlen Sie als Menschenrechtsexpertin für die endgültige Entscheidung im Dezember?

Anke Stock: Ich bin dafür, dass die EU ein klares Datum zum Start von Beitrittsverhandlungen setzt und zugleich die Einhaltung der Menschenrechte genau beobachtet.

Warum sollen die Verhandlungen nicht sofort beginnen?

Erst muss die Türkei die Rechte ihrer Minderheiten, insbesondere der Kurden, voll anerkennen.

Die Menschenrechtslage ist aber nicht so schlecht, dass Sie eine Aufnahme der Türkei derzeit ganz abzulehnen?

Die Türkei hat in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen, die Lage zu verbessern, etwa mit der Abschaffung der Todesstrafe und der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte. Die jetzt beschlossene Strafrechtsreform ist nochmals ein großer Schritt in die richtige Richtung.

den die EU nicht gefährden sollte?

Die EU muss die Türkei bei aller Kritik fair behandeln. Sonst wird es eine große Trotzreaktion geben. Der Streit um die Bestrafung des Ehebruchs war ein Warnsignal, sozusagen eine kleine Trotzreaktion.

Ein Gradmesser für die Menschenrechtslage eines Landes sind die Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Wie ist die Bilanz der Türkei?

Die Bilanz ist ziemlich schlecht. Allein von Oktober 2002 bis Oktober 2003 hat der Gerichtshof 92 Urteile gefällt, die die Türkei betreffen und nur einmal wurde festgestellt, dass die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt hat.

Kann die EU wirklich einen Staat aufnehmen, der ständig wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird?

Die Verurteilungen betreffen ganz überwiegend Vorfälle aus den Jahren 1993 bis 1996. Damals gab es sehr viele Fälle von Folter, ungesetzlichen Tötungen, es verschwanden Menschen, und Dörfer wurden zerstört.

Und haben die zahlreichen Verurteilungen seither tatsächlich etwas bewirkt?

Ich glaube schon. Nehmen Sie nur die kurdische Politikerin Leyla Zana. Ihre Freilassung geht unter anderem auf eine Intervention aus Straßburg zurück. Und auch viele der Gesetzesänderungen der letzten Jahre sind Reaktionen auf Kritik des Gerichtshofs.

Was war wichtiger für die positive Entwicklung: die Urteile aus Straßburg oder die Perspektive des EU-Beitritts?

Das lässt sich kaum trennen. Wegen der EU-Perspektive haben die Urteile des Gerichtshofs natürlich größeres Gewicht bekommen. Aber das Straßburger Gericht hat im Südosten der Türkei auch sonst viel ausgelöst, insbesondere die Kurden haben gemerkt, da ist eine Institution, an die sie sich wenden können – und es bewirkt auch etwas. Dort kennen sogar die Leute auf der Straße den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Wird in der Türkei noch systematisch gefoltert?

Von systematischer Folter spricht man, wenn der Staat diese anordnet und deckt. Das ist wohl nicht mehr der Fall. Aber wir hören leider immer noch regelmäßig von Folterfällen. Dabei findet die Folter zunehmend nicht mehr auf Polizeiwachen statt, sondern die Opfer werden mit dem Auto an einen unbekannten Ort gefahren und von Personen in Zivil misshandelt.

Welche Rolle spielen die türkischen Gerichte heute?

Sie sind eher Teil des Problems als der Lösung. Noch haben sie die neue fortschrittliche Rechtslage nicht verinnerlicht.

Brauchen türkische Juristen und Polizisten also eine spezielle Fortbildung in Menschenrechtsfragen?

So etwas gibt es in Ansätzen bereits. Aber wenn die Türkei erst einmal Beitrittskandidat ist, dann wird sich auch die EU in diesem Feld vermehrt finanziell engagieren.

Wie unumkehrbar sind die Reformen?

Noch stehen viele Änderungen nur auf dem Papier. Und wo eine problematische Bestimmung abgeschafft wurde, finden reformfeindliche Juristen heute eine andere. Beispiel Meinungsfreiheit: Sie wird zwar nicht mehr durch den berüchtigten Artikel 8 des Antiterrorgesetzes eingeschränkt. Stattdessen werden Bücherverbote und Ähnliches heute unter anderem damit begründet, dass das Andenken an Staatsgründer Atatürk verletzt sei. Damit ist noch nichts gewonnen.

Welche Bedeutung hat es, dass die türkischen Reformen von einer gemäßigt islamistischen Regierung durchgeführt werden?

Das ist einerseits hilfreich, weil jetzt eine vollkommen neue, noch unbelastete Politikerkaste an der Regierung ist. Diese Regierung ist auch aus eigener Betroffenheit für Menschenrechtsfragen offen. Den heutigen Ministerpräsidenten Erdogan haben wir vor einigen Jahren selbst in einer Rechtssache beraten. Zugleich ist Erdogans AKP allerdings eher wenig engagiert, wenn es um Menschenrechte von Frauen geht, zum Beispiel bei häuslicher Gewalt.INTERVIEW: CHRISTIAN RATH