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Die Deutsche dieser EM

Mit ihrem vierten EM-Titel in Folge vollzieht die Weitspringerin Heike Drechsler ein erstaunliches Comeback  ■ Aus Budapest Peter Unfried

In einer fernen, fernen Zeit, in der manches noch anders war, begab es sich, daß deutsche Männer bei einer Europameisterschaft von 100 bis 800 m alles gewannen. Die Sprinter kamen aus dem Osten, die anderen aus dem Westen, und ihre Namen sind relativ vergessen (sie hießen Emmelmann, Prenzler, Weber und Ferner). Das war vor sechzehn Jahren, aber die Athletin Heike Drechsler gab es damals schon. Sie hieß Daute und wurde in Athen Weitsprung-Vierte. Und heute? Ist sie immer noch da und hat die erstaunlichste der vier Goldmedaillen deutscher Athletinnen gewonnen.

Es ist daher vermutlich mehr als eine Redensart, wenn die Olympiasiegerin und zweifache Weltmeisterin sagt, ihr vierter EM-Titel in Folge sei „vielleicht der am härtesten zu erkämpfende“ all ihrer vielen Siege gewesen. Einmal EM- Gold über 200 m war auch dabei (86) sowie Silber (90), so daß sie mit fünf Titeln und einem zweiten Platz statistisch bloß noch von vier Europäerinnen übertroffen wird, zuvorderst Marita Koch (sechsmal Gold), und das auch bloß, weil man sie trotz erwiesener Qualifikation nicht in den DDR-Staffeln mitrennen ließ.

Drei „schlechte Jahre“ hatte Drechsler, mit einem mißglückten Doppelstart bei der WM 1995, dem Fehlen in Atlanta, Platz vier bei der WM in Athen, der vergeblichen Suche nach alternativen Disziplinen. Ständig geplagt von immer neuen Verletzungen des verschlissenen Athletinnenkörpers. Vergangenen Herbst ließ sie sich an beiden Achillessehnen operieren, danach organisierte sie ihr Sportlerinnenleben um, nun ist sie gesund wie lange nicht. „Voriges Jahr war ich noch nicht die Nummer 1“, sagt ihr Trainer Alain Blondel, „dieses Jahr schon.“ Erich Drechsler, langjähriger Trainer und Ex-Schwiegervater, durfte sich bei Jena aufs Dorf und aufs Rententeil zurückziehen. Ab und an wird telefoniert oder sie ist zu Besuch, die Arbeit aber wird in Karlsruhe von der Lebensgemeinschaft gemacht, und zwar nicht mehr „knallhart durchgezogen“ wie einst, sondern dem Zustand des Körpers angemessen, konzentriert auf „qualitative Dinge“. Beide Drechslers wollten immer alles sofort, da gab es „auch mal Explosionen“ (Drechsler). Blondel sei „ruhiger“, habe ihr beigebracht, daß man „Geduld haben muß, dann entwickelt sich was“.

Der ehemalige Zehnkämpfer ist auch Manager, und zwar unter anderen von EM-Star Christine Arron. Heike Drechsler trainiert er bisher nur. Und zwar bloß, wenn sie schmerzfrei ist, und selbst dann „mit Gefühl“. Gefühl sagte ihr auch, daß sie ihre Topgeschwindigkeit zu früh, nämlich schon vor dem Balken erreichte. Messungen bestätigten es, weshalb sie nun nur noch 17 statt 19 Schritte anläuft und damit wieder schneller vom Balken kommt. Zwei gültige Sprünge hatte Drechsler im Nepstadion, beide wurden mit 7,16 m gemessen, wobei der eine von unzulässigem Rückenwind (2,8 m) begleitet wurde und den Balken optimal traf, der zweite aber regulär war (1,0 m) und nicht so knapp, woraus sie schließt, sie habe „noch Reserven“.

7,16 m, so weit ist Drechsler seit 1994 nicht mehr gesprungen, es ist der Leistungshöhepunkt einer Saison, die mit 6,65 m begann und kurz vor der EM in Zürich mit 7,05 m den langersehnten Siebenmetersprung und damit die Gewißheit brachte, in Budapest Topleistung bringen zu können. Das mußte sie auch, um in einem qualitativ hochstehenden Wettbewerb die amtierende Weltmeisterin Ludmilla Galkina (7.06 m mit zuviel Wind) und deren Vorgängerin Fiona May zu schlagen. Die haderte zwar etwas mit dem wechselnden Wind, sprang aber dennoch mit 7,11 m italienischen Rekord in ihrem „perfektesten Wettkampf des Jahres“. 1990 war sie Siebte, 1994 Dritte, nun ist sie Zweite und glaubt damit bewiesen zu haben, daß ihr WM-Titel „keine Eintagsfliege war“ und sie nun als regelmäßige Siebenmeterspringerin gelten kann.

Die Zukunft? Sie werde „hart“ mit der zurückgekehrten Drechsler und der ständigen Drohung Marion Jones, die die drei weitesten Sprünge des Jahres hat (zweimal 7,31 m, 7,23 m) und die Golden League-Events in Rom und Zürich gewann, obwohl sie weitgehend technikfrei springt, aber von unerreichter Anlaufgeschwindigkeit beschleunigt wird. „Sie ist nicht gut für den Weitsprung“, sagt May, „sie läßt uns aussehen, als ob wir nichts könnten.“ Drechsler will die Sache mit Jones lieber als Ansporn sehen. Sie vergleicht sich und merkt: „Ich komme näher und näher.“

Man hatte in Budapest den Eindruck, Heike Drechsler sehe jünger und frischer aus als die Jahre zuvor, und dies, obwohl sie wegen der Hitze in ihrem Zimmer meist „schlecht schlafen“ konnte. Wenn Europäer ihr die erstaunte Frage stellen, warum sie eigentlich immer noch da ist, antwortet sie, sie „genieße den Sport“. Nach der WM in Göteborg 1995 ist sie Stück für Stück aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden, nun ist sie wieder wer. „Ich war nicht sicher, daß ich ankomme“, sagt sie, „aber ich wollte unbedingt zurück.“ Und nun schon noch eine Weile dableiben. In so einer Stimmung kann man ihr sogar mit der EM 2002 kommen. Es ist eigentlich auch kein Problem. „Ich bin 28“, sagt Heike Drechsler. Nur besonders pedantische Geburtsurkundler würden da behaupten wollen, daß sie im Dezember 34 wird.

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