: „Die Demokratie hinkt dem Tenno-System hinterher“
■ Hitoshi Motoshima (68), Bürgermeister der Stadt Nagasaki, über Kaiserkrönung, Kriegsverantwortung und Demokratie in Japan INTERVIEW
Hitoshi Motoshima ist Japans meistgefährdetster Politiker. Nur mit Glück überlebte er im Januar den Mordanschlag eines rechtsradikalen Attentäters. Der Grund für den Mordversuch: Vor zwei Jahren hatte Motoshima öffentlich die Mitverantwortung von Kaiser Hirohito an
den Greueln des Zweiten Weltkriegs eingeklagt.
taz: Herr Bürgermeister, Rechtsradikale beschuldigen Sie des Vaterlandsverrats. Und man hat auf Sie geschossen. Wie leben Sie mit dem täglichen Terror?
Hitoshi Motoshima: Körperlich geht es mir wieder gut. Es ist die Angst, die mich krank macht. Zu Hause mache ich das Licht aus, bevor ich die Vorhänge öffne. Und bei öffentlichen Auftritten verspüre ich heute Angst.
Trotzdem wollen Sie erneut kandidieren ...
Ja, und ich darf nicht verlieren.
Wo sehen Sie denn Ihre besondere Verantwortung?
Im Herbst 1988 habe ich erklärt, daß auch der Tenno für den Weltkrieg verantwortlich war. Aus dem ganzen Land gab es darauf positive Reaktionen. Besonders die Bürger von Nagasaki haben mich ermutigt.
Betrachten Sie sich als Kritiker des Tenno-Systems?
Als Volksvertreter bin ich zunächst der Verfassung treu. Und in unserer Verfassung steht, daß der Tenno das Symbol Japans ist. Dem zolle ich Respekt.
Die sieht aber nicht vor, daß der Tenno mit einer quasireligiösen Zeremonie den Thron besteigt ...
Auch wenn die Tradition respektiert werden sollte, muß sie im Rahmen der Verfassung bleiben. An diesem Prinzip wird leider nicht immer festgehalten.
Sie haben Japan einmal als „demokratisches Entwicklungsland“ bezeichnet. Aus welchem Grund?
Frankreich und England sind Länder, in denen sich das Volk die Demokratie erkämpft hat. Deutschland hinkt da ein wenig hinterher, aber Japan noch viel mehr.
Als vor etwas mehr als hundert Jahren in der Meiji- Ära das moderne Japan entstand, rekonstruierten dessen Schöpfer ein neues Tenno-System. Hatten sie damit ein Bollwerk gegen die Demokratie errichtet?
Der Tenno stand seit Beginn der Meiji-Ära (1868) im Mittelpunkt des japanischen Systems. Die programmatischen Schlagworte dieses Systems lauteten: Industrialisierung, Zivilisation und „Mit einer starken Armee ein reiches Land gründen!“. In dieser Zeit hat Japan den humanistischen Grundgedanken, daß jeder Mensch Repekt verdient, der Modernisierung geopfert. Bedingungslos sollte sich jeder diesen Zielen unterordnen.
Warum haben es Japans Demokraten auch nach dem Krieg nicht geschafft, das Kaiserhaus zu stürzen?
Die Demokratie in Japan wurde von den Amerikanern verordnet. In den Köpfen der Menschen aber überlebten die alten Gedanken. Es gab damals Leute, die die Demokratie erlernen wollten. Doch sie konnten sich nicht durchsetzen. Viele Japaner überstanden die Niederlage, ohne sich selbst zu hinterfragen.
Ihr Fall zeigt, daß diese Hinterfragung offenbar auch heute noch unmöglich ist...
Im letzten Krieg haben die Japaner viel gelitten. Ganz besonders hier in Nagasaki, in Hiroshima und Okinawa. Doch Japan war nicht nur Opfer, Japan war vor allem Täter. In Südostasien, in China und in Korea haben die kaiserlichen Armeen enormen Schaden angerichtet. Diese nackte Wahrheit wird nach wie vor unterschlagen. Ich habe deshalb in diesem Sommer erneut vorgeschlagen, daß Japan auch den koreanischen Atombombenopfern helfen muß, die bis zum heutigen Tag aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden.
Werden Ausländer in Japan auch heute noch als Menschen zweiter Klasse behandelt?
Auch auf diesem Gebiet ist Japan rückständig. Ausländer haben kein Wahlrecht, können nicht Beamte, Lehrer oder Polizisten werden. Als ich vorschlug, auch Ausländer in die Stadtverwaltung aufzunehmen, bekam ich heftige Schelte aus Tokio. Auch große Unternehmen stellen ungern Ausländer ein. Wenn Japan das nicht überwinden kann, wird das Land im nächsten Jahrhundert große Schwierigkeiten bekommen.
Könnte die japanische Demokratie trotzdem einer gesellschaftlichen Krise standhalten?
Japan ist, von außen betrachtet, sehr reich geworden. Doch im Innern gibt es weiterhin gravierende wirtschaftliche Probleme. Bis jetzt gereichte es allen zum Vorteil, daß zwischen Arm und Reich keine große Lücke klaffte. Doch gerade die tut sich heute auf, da der neue Reichtum immer schlechter verteilt wird. Was in einer Wirtschaftskrise geschieht — ob Japan zum Militarismus zurückkehrt oder den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft einschlägt —, bleibt offen.
In Japan gibt es eine ganze Armee von Rückwärtsgewandten, rechtsradikale Gruppen zählen mehrere hunderttausend Mitglieder. Hat die Polizei wenigstens nach dem Attentat auf ihre Person versucht, die politisch Verantwortlichen aufzuspüren?
Ganz im Gegenteil. Die rechtsradikalen Gruppen wurden nicht verfolgt. Es gelang ihnen sogar mehr noch als zuvor, auf sich aufmerksam zu machen.
Zwei Monate nach dem Attentat versammelten sich die Führer von 35 rechtsradikalen Organisationen und bekannten sich zu dem Mordanschlag auf Ihre Person. Polizei und Regierung reagierten nicht, die Presse berichtete nicht. Nach Auffassung vieler werden so die Grundrechte in der Demokratie außer Kraft gesetzt ...
Genau. Aber in dieser Gesellschaft ist das erlaubt.
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