: „Die DDR soll selbst entscheiden, was für sie gut ist“
Interview der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Nowosti‘ mit Valentin Koptelzew, Leiter des Sektors DDR in der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU ■ D O K U M E N T A T I O N
'Nowosti‘: Die Beziehungen zweier sozialistischer Staaten sind sicher auch ein wechselseitiger Prozeß des Lernens, ein Erfahrungsaustausch. Inwieweit sind die Erfahrungen auf dem bisherigen Weg der Umgestaltung in der UdSSR übertragbar auf die Verhältnisse in der DDR?
Valentin Koptelzew: Die sowjetischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Umgestaltung sind selbstverständlich nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse in der DDR übertragbar. Die konkreten Gegebenheiten in unseren Ländern sind sehr unterschiedlich, wenn auch die sozialistische Gesellschaftsordnung für sie beide kennzeichnend ist. Wir in der Sowjetunion gehen davon aus, daß die Umgestaltung, Reformen oder sonstige Vorhaben in jedem sozialistischen Land die Sache des eigenen Volkes und seiner politischen Organisationen sind, die selbst bestimmen, was konkret zu tun ist. Es ist ja bekannt, daß die Verhältnisse in verschiedenen Regionen der Sowjetunion auch nicht gleich sind. Dadurch erklärt sich der vom Genossen Gorbatschow wiederholt geäußerte Standpunkt, bei uns werde Wert darauf gelegt, daß die einzelnen Gebiete, Regionen und Republiken in der Sowjetunion selbstständige Maßnahmen zur Gestaltung und Durchsetzung der Reformprozesse treffen. Um so mehr ist dieser Grundsatz anwendbar für andere Staaten, für sozialistische Bruderländer.
Ist die Sowjetunion daran interessiert, daß sich auf dem Gebiet der Menschenrechte in der DDR etwas verändert?
Die Sowjetunion und das sowjetische Volk sind daran interessiert, daß weitere positive Veränderungen auf dem Gebiet der Menschenrechte sich zunächst einmal in der Sowjetunion selbst vollziehen. Grundsätzlich gilt dieser Wunsch für alle Staaten und Völker auf der Welt. Denn es gibt überall auf der Welt einiges zu verbessern in diesem Bereich. Was konkret in der DDR an Menschenrechten und deren Verwirklichung verbesserungsfähig und -würdig ist, muß die Öffentlichkeit der Republik selbst bestimmen. Wir sind allerdings überzeugt, daß die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, andere Parteien und gesellschaftliche Organisationen in der DDR durchaus imstande sind, für sich selbst zu entscheiden, was, wo und wann sie verändern und umgestalten.
Welche Erfahrungen auf dem Gebiet der Ökonomie und der Gestaltung der sozialistischen Demokratie in der DDR sind für die UdSSR von besonderem Interesse?
Ich würde sagen, daß eine ganze Menge von positiven Erfahrungen in der DDR sowohl auf dem Gebiet der Wirtschaft als auch der Gestaltung des Rechtsstaates für uns sehr interessant und sehr gut sogar auf unsere Verhältnisse übertragbar wären. Selbstverständlich unter Berücksichtigung der sowjetischen Zustände. Auf dem Gebiet der Ökonomie ist zum Beispiel die innerbetriebliche Rechnungsführung in der DDR musterhaft. Das bildet die Grundlage für die Rechnungsführung und den landesweiten Übergang zu den sozialistischen Marktverhältnissen, wie wir es vorhaben. Im Bereich der Demokratie ist die Ausgestaltung ihrer einzelnen Institute, die Mehrparteilichkeit recht aufschlußreich. Einige Elemente und Merkmale des Wahlsystems der DDR lassen sich in unserem neuen Wahlsystem finden. Das würde vielleicht im Westen nicht so weit und breit bekannt sein, aber es ist so. Wir lernen voneinander und sind der Meinung, daß sich die Reformen und Neueinführungen vor allem aus der inneren Entwicklung des jeweiligen Landes und der Gesellschaft heraus ergeben sollen. Sie sind von Bestand und Dauer, nur wenn sie vom eigenen Volk, von der eigenen Partei initiiert und verwirklicht werden. Die Frage, inwieweit die eine oder andere Erfahrung eventuell übernommen wird, hat dabei eher eine untergeordnete Bedeutung.
Die bürgerlichen Medien in West-Berlin und der Bundesrepublik, verschiedene Institutionen und Parteien wie die SPD sind der Auffassung, die DDR habe im Vergleich mit der Sowjetunion einen Nachholbedarf an Reformen. Was ist Ihre Meinung?
Eigentlich ist diese Frage mit meinen vorherigen Äußerung beantwortet. Wir teilen nicht die Auffassung, daß die DDR im Vergleich mit uns einen Nachholbedarf an Reformen hätte. Einiges ist wohl bei uns besser als in der DDR, in anderen Angelegenheiten sind die DDR-Bürger uns vielleicht um eine oder zwei Nasenlängen voraus. Man darf da nicht bei so allgemeinen Vergleichen kathegorisch sein. Übrigens würde ich den von ihnen genannten Medien und Institutionen im Westen raten, sich etwas mehr Bescheidenheit in diesen Fragen aufzuerlegen und nicht, wie man bei uns sagt, mit der eigenen Ordnung ins fremde Kloster einzubrechen versuchen. Den gleichen Rat würde ich auch denjenigen in der DDR selbst geben, die ohne Bedenken diese ausländischen, das heißt aus dem Westen kommenden Empfehlungen übernehmen und als ihre eigenen zu suggerieren versuchen. Bei jedem Reformvorschlag, der aus der Mitte der DDR kommt, muß bedacht werden, daß solche Vorstellungen DDR-eigen sein müssen, sich klar davon abgrenzen müssen, was aus dem Westen kommt. Nur dann hat, wie ich schon sagte, das Erreichte Bestand und Dauer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen