: Die Bio zurückgeholt
Der Räuber und Schriftsteller Ludwig Lugmeier erzählt sein Leben: „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“
Trifft man Ludwig Lugmeier in diesen Tagen, so begegnet man einem aufgeräumten Herrn mit Schnauz, bei dessen Anblick nicht verwundert, dass er eine Zeit lang als Märchenerzähler gearbeitet hat. Den Lugmeier allerdings, der Mitte der Siebzigerjahre eine Berühmtheit war, erahnt man nicht, ebenso wenig, dass diese Berühmtheit auf zwei spektakulären Überfällen fußt. Nun ist Lugmeier noch einmal aufgrund seiner Verbrechen durch alle Zeitungen gereicht worden, diesmal allerdings, weil er sie sich selbst angeeignet hat. Er hat sich seine Geschichte zurückgeholt und sie sorgsam in eine Autobiografie mit dem Titel „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“ verpackt.
Diese aber ist vor allem ein literarisches Ereignis. Lugmeier ist nicht einfach ein Mann, der ein abenteuerliches Leben niederschreibt. Er ist ein Schriftsteller, und als solcher formt und organisiert er sein Material. Man sollte also nicht jedes geschilderte Ereignis als authentisches lesen, damit würde man dem Buch nicht gerecht werden. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass Lugmeier allzu viel beschönigt: Der Ludwig Lugmeier, der sich im Text findet, ist mitnichten ein rundum sympathischer Held.
Der Lebensbericht endet mit einer Selbstaneignung: „Ich klopfte an die Tür, und als der Aufseher kam, sagte ich, John Michael Waller sei nicht mein richtiger Name. Er sah mich neugierig an. Er war groß, auf dem Kopf saß eine Uniformmütze und in der Hand hielt er den Zellenschlüssel. ‚Ich hieße Ludwig Lugmeier‘, sagte ich. ‚Ich brauche Bleistift und Papier.‘ “ Der, der sich hier mit Namen meldet, der, der hier Schriftsteller wird, verrät sich mit seinem Namen endgültig. Und in diesem Verrat kommt er zu sich. Ludwig Lugmeier will endlich wieder jemand sein.
Die Autobiografie beginnt zwar mit einer ersten Verhaftung, die knapp umrissen wird, dann aber lässt sich Lugmeier Zeit und schildert auf rund hundert Seiten seine Kindheit. Dabei verwendet er die Sprache, die er für seinen 1992 erschienenen Roman „Wo der Hund begraben ist“, entwickelt hat. Wie in jenem Text, der mit feinem Sprachgefühl ein dumpfes Bayern der Nachkriegszeit schildert, begleitet man in der Autobiografie den kleinen Ludwig durch eine Jugend in der reaktionären Provinz. Einzig die Großmutter, die als „Hexe“ gilt, zeigt Auswege aus dem Kleinfamilienglück der Fünfzigerjahre. Die Träume des Jungen werden von Abenteuerromanen beflügelt – bis Lugmeiers Lugmeier sich selbst als Abenteurer zu begreifen beginnt. Einer, der nach einem Bagatelldelikt gern in den Knast geht, weil er dort andere Abenteurer findet. Nach einer Jugendstrafe will er Mafioso werden, später heuert er auf einem Schiff an, beginnt aber auch zu schreiben. In brenzligen Situationen wird er schließlich immer wieder zu dem „anderen“, der an seiner Stelle agiert, eine Maske, hinter der sich der echte Lugmeier aus dem bayerischen Dorf bald zu verlieren droht.
Spätestens hier hat sich die Erzählhaltung der Geschichte geändert. Nun schreibt Lugmeier plötzlich an einem Abenteuerroman mit sich selbst als Protagonisten, und atemlos hetzt man mit ihm von Flucht zu Flucht. Lugmeier hat zweimal Geldtransporte überfallen, dabei über zwei Millionen DM ergattert, wurde in Mexiko verhaftet, hätte beinahe ein Hotel auf den Bahamas gekauft, entkam einer Verhaftung in England und einmal, indem er in Frankfurt inmitten eines laufenden Prozesses aus dem Fenster sprang.
Doch all das, wie das Ende des Buchs zeigt, befriedigt ihn nicht. Im Gegenteil, erst im Epilog, der das Leben nach dem Knast schildert, findet Lugmeier zu der verdichteten, konzentrierten Sprache zurück. Lugmeier erweist sich als ein Erzähler, der sich den Sujets anpassen kann und der die eigene Biografie als Material zu betrachten und daraus ein mitreißendes Buch zu formen weiß. JÖRG SUNDERMEIER
Ludwig Lugmeier: „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“. Verlag Antje Kunstmann, München 2005, 336 Seiten, 19,90 Euro