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Die Bevölkerung als Geisel

Die gerade wieder verlängerten Sanktionen gegen den Irak haben die dortige Wirtschaft weitgehend zusammenbrechen lassen  ■ Von Thomas Dreger

Berlin (taz) – Fünf Jahre nach dem zweiten Golfkrieg steht der UN-Sicherheitsrat alle zwei Monate vor einem Dilemma. Er muß entscheiden, ob die gegen den Irak verhängten Sanktionen aufrechterhalten werden oder nicht. Letzten Freitag war es wieder soweit; routinemäßig verlängerte der Rat die Sanktionen.

Nach dem irakischen Überfall auf Kuwait am 2. August 1990 verhängte der Sicherheitsrat ein unfassendes Wirtschafts- und Handelsembargo über das Zweistromland: erst um die irakischen Truppen zum Rückzug aus Kuwait zu zwingen, dann um die irakische Führung zur vollständigen Zerstörung ihrer Massenvernichtungsmittel zu bewegen – und schließlich, wenn auch offiziell unausgesprochen, um Saddam Hussein zu schwächen oder zu stürzen.

Doch fünf Jahre nach Kriegsende scheint der irakische Staatschef innerhalb des Irak unangefochten. Und immer wieder tauchen Hinweise auf, daß irakische Militärs die UN-Inspekteure an der Nase herumführen und sich weiterhin Militärgüter aus dem Ausland beschaffen. So entdeckten Ende Dezember Taucher im Tigriskanal in Bagdad Steuerungsgeräte für Raketen. Wenige Tage später wurden in Jordanien für den Irak bestimmte waffenfähige Chemikalien beschlagnahmt.

Schlechte Voraussetzungen also für eine Aufhebung oder Lockerung des Embargos – wären da nicht die auch von der UNO belegten Zahlen über dessen unschuldige Opfer. Im Juni vergangenen Jahres berichteten das UN-Kinderhilfswerk Unicef, die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Welternährungsprogramm WFP in einem gemeinsamen Bericht, im Irak seien mindestens eine Million der 18 Millionen EinwohnerInnen vom Hungertod bedroht. Fast ein Viertel der Kinder unter fünf Jahren leide an Unterernährung. Deshalb und wegen des Mangels an Medikamenten stürben viele Kinder an sonst nicht lebensgefährlichen Krankheiten.

Der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO zufolge hat sich gegenüber der Zeit vor dem Embargo die Kindersterblichkeit im Irak verfünffacht. Die Preise für Grundnahrungsmittel seien „phänomenal gestiegen“. Weizenmehl etwa koste 11.000mal soviel wie 1990. Die Rationierung von Lebensmitteln habe zwar eine Hungerkatastrophe verhindern können, jedoch deckten die Lebensmittelrationen nur noch 34 Prozent der notwendigen Kalorien.

Dabei müssen Lebensmittelimporte laut UN-Resolution 687 einzig dem UN-Sanktionsausschuß mitgeteilt werden. Güter zur Deckung des Grundbedarfs der Bevölkerung gelten als genehmigt, wenn binnen 48 Stunden kein Mitglied des Sanktionsausschusses Einwände dagegen erhebt. Die Einfuhr von Medikamenten ist gar nicht verboten. Zudem wird dem Irak zugestanden, alle sechs Monate Erdöl im Wert von 1,6 Milliarden US-Dollar zu verkaufen, vorausgesetzt, der Erlös wird für humanitäre Zwecke verwendet. Ein Teil soll zudem in den von Kurden kontrollierten Norden des Landes abgeführt werden und 30 Prozent an einen Entschädigungsfonds für kuwaitische Invasionsopfer.

Die irakische Führung – für die nach dieser Rechnung von den Einnahmen nichts übrigbleiben würde – lehnt dies jedoch als fundamentalen Eingriff in die Souveränität des Landes ab und fordert die Aufhebung des Embargos. Andernfalls, so erklärte der irakische Vizepräsident Tarik Asis kürzlich ungerührt, „werden noch mehr Kinder sterben“. Für den UN- Menschenrechtsbeobachter im Irak, den ehemaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel, bedeutet diese Politik, daß die irakische Führung die Bevölkerung „als Geisel“ hält.

Die irakische Wirtschaft hat das Embargo längst kollabieren lassen. Lukrativer Handel findet nur noch auf dem Schwarzmarkt statt. Laut einem Unicef-Bericht fiel dort der irakische Dinar zwischen Sommer 1994 und 1995 gegenüber dem US- Dollar auf ein Viertel seines Wertes. Das monatliche Durchschnittseinkommen eines Beamten von 5.000 irakischen Dinar entspricht damit weniger als 3 US-Dollar, gerade genug für 3 Kilo Mehl. Als Folge verkaufen Familien auf Straßenmärkten ihr letztes Hab und Gut. Laut Regierungsangaben hält sich die Hälfte der Staatsbeamten mit Zweitjobs über Wasser. Die Kriminalitätsrate steigt beständig. Obwohl die irakische Führung nach Verhängung der Sanktionen angekündigt hatte, der Irak sei notfalls auch als Agrarland überlebensfähig, ist das Land heute mehr denn je von Lebensmittelimporten abhängig. Schlechte Ernten, der Mangel an Ersatzteilen, fehlender Dünger sowie von der Regierung festgesetzte und überwachte Fixpreise, die die Bauern demotivieren, haben den Traum von der Autarkie platzen lassen.

Dennoch hat sich unter den UN-Sanktionen im Irak eine Schattenwirtschaft etabliert, von der aber weitgehend nur die Führungsschicht profitiert. Laut dem exilierten irakischen Wirtschaftswissenschaftler Ridha Muhammad sollen ihre Einnahmen durch Embargobrüche jährlich zwischen einer und eineinhalb Milliarden US- Dollar betragen, Diplomaten in Bagdad sprechen gar von 3 Milliarden. Gewieften Geschäftemachern bereitet es wenig Schwierigkeiten, den UN-Sanktionsausschuß, dem derzeit Deutschland vorsteht, auszutricksen. 1994 mußten dort drei Beamte mit drei Schreibkräften 5.000 Einzelanträge für Exportgenehmigungen in den Irak bearbeiten.

Saddam Husseins ältestem Sohn Udai gelang es so, für einige seiner zahlreichen in London registrierten Firmen zwischen 1991 und 1993 Liefergenehmigungen für Schnaps im Wert von einer Million US-Dollar zu bekommen. Für den Bau von Moscheen genehmigte Baumaterialien und Möbel fanden teilweise in den zahlreichen Palästen Saddam Husseins Verwendung. Irakische Oppositionelle behaupten, die irakische Führung habe über 35 Milliarden US- Dollar auf Geheimkonten im Ausland angehäuft. Die Regierung dementiert alles.

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