■ Die Beurteilung der Frau zählte: Mutige Entscheidung
Niemand bezweifelt, daß die damals 28jährige Frau vor zehn Monaten ihre neugeborene Tochter erstickt hat. Und doch durfte sie gestern nach der Urteilsverkündung das Gericht verlassen und nach Hause gehen. Grund: Die Strafkammer entschied auf Kindestötung in einem minder schweren Fall, obwohl die Staatsanwaltschaft eigentlich Anklage wegen Totschlags erhoben hatte. Der Angeklagten wäre damit nicht eingeräumt worden, als ledige Mutter durch Schwangerschaft und Geburt in einer psychischen Ausnahmesituation gewesen zu sein. Fünf Jahre wären für sie die Mindeststrafe gewesen; es wurden zwei, die zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Noch nie wurde bisher eine Frau wegen dieses geringeren Tatvorwurfs milder bestraft, die ihr uneheliches Kind nicht unmittelbar nach der Geburt getötet hatte. Damit legten die Richter die Formulierung „gleich nach der Geburt“ im Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs weiter aus denn je. In Lehrbüchern hatte die Mehrheit zwar schon länger behauptet, daß die Dauer der „geburtsbedingten Erregung“ individuell sei, doch in der Rechtsprechung hatte diese Individualität bislang zwei Stunden noch nicht überschritten.
Daß Männer definieren, wie es einer Frau wann und wie lange schlecht geht, wollte die Rechtsanwältin nicht mehr hinnehmen, wie sie unmißverständlich klarmachte. Und die vom Gericht bestellte Gutachterin interessierte sich herzlich wenig für bisherige Urteile, sondern versicherte, daß sich die Angeklagte noch in einer Ausnahmesituation befand.
Der Vorsitzende Richter ging den Weg mit, seine Fragen zielten schon früh in die noch ungewohnte Richtung. Und der Vertreter der Staatsanwaltschaft überraschte die Verteidigerin, als er sich die fortschrittliche Idee, auf Kindestötung zu plädieren, zu eigen machte. Daß die Anwälte ein unterschiedliches Strafmaß forderten, liegt in der Natur ihres Jobs und tut dem Ergebnis im Grundsatz keinen Abbruch. Eigentlich nicht.
Doch der Staatsanwalt will Revision beantragen, da er trotz allem eine Haftstrafe für richtig hält. Damit ist die mutige Entscheidung des Richters, sich dem Urteil zweier Frauen über die psychische Lage einer Frau anzuschließen, in Gefahr. Dabei ist der Entschluß, Gesetze zugunsten der Betroffenen auszulegen, eigentlich wegweisend. Christian Arns
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