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Die Angst um Krümmel

Leukämie in der Elbmarsch: In Geesthacht spaltet der Streit um das AKW die Bevölkerung in unversöhnliche Lager  ■ Von Heike Haarhoff

Der Wirt lehnt vereinsamt am Zapfhahn. Die Gäste in der Kneipe „Stadt Hamburg“ im Zentrum der Kleinstadt Geesthacht an der Unterelbe hocken an diesem Mittwoch abend ausnahmsweise lieber mit 400 weiteren Versammelten zwei Häuser weiter im Gemeinde-Ratssaal. Dort auf dem Podium rückt der schleswig-holsteinische Energieminister Claus Möller (SPD) seine mitgebrachten Zettel zurecht. Die örtlichen Bürgerinitiativen gegen Leukämie in der Elbmarsch wollen ihn und den grünen Kieler Umweltminister Rainder Steenblock zur Rede und Deutschlands größten Siedewasserreaktor Krümmel abstellen.

Der steht am Elbufer wenige Kilometer vom Ratssaal entfernt – und im Verdacht, die unerklärlich vielen Blutkrebs-Erkrankungen in der Elbmarsch zu verursachen. Seit 1989 sind in einem Fünf-Kilometer-Radius um das Atomkraftwerk zehn Kinder und Jugendliche an Leukämie erkrankt; der jüngste Fall ist an diesem Mittwoch bekannt geworden.

Die Verzweiflung über die Ungewißheit, und die bange Frage, wessen Kind wohl als nächstes dran ist, schlägt im Saal in öffentliche Wut um: „Im Regenwasser von Grünhof, das in der Hauptwindrichtung Krümmels liegt, sind erhöhte radioaktive Cäsium-Werte gefunden worden.“ Die Stimme von BIler Rainer Hoppe überschlägt sich, wie er da die Anklageschrift gegen den Reaktor verliest. „Beim Bau wurde gepfuscht“, ruft ein Zuschauer. „Das hat Monitor berichtet, daß die da beim Zusammenschweißen des Druckreaktorbehälters Teile verformt haben. Bisher ist keine Gegendarstellung erfolgt“, folgert der Mann, daß die Vorwürfe also richtig sein müssen.

Und auch das Bundesverwaltungsgericht hat jüngst entschieden, daß die Leukämiefälle bei der Erteilung der AKW-Betriebsgenehmigung zu berücksichtigen seien (siehe Kasten rechts): „Herr Möller, wie erklären Sie sich das? Tun Sie waaaas!“, dröhnen die einen aus ihrer Ecke.

Ruhig, noch, sucht der Energieminister zu beschwichtigen: „Ich kann Ihnen hier nicht sagen, daß wir Krümmel abschalten, so sehr ich es mir auch wünsche.“ Schon einmal an diesem Mittwoch hat Claus Möller über die Risiken des AKW Krümmel gesprochen. Hat dargelegt, weshalb selbst ihm, dem Vorsteher der Reaktor-Landesaufsichtsbehörde und zugleich „bekennenden Atomkraftgegner“ bei der derzeitigen Bundesatomrechts-Lage schier die Hände gebunden seien, den gefürchteten Atommeiler vom Netz zu nehmen. Das war vor dem Landtag in Kiel.

Jetzt hält er seine Regierungsrede zum zweiten Mal, aber die Opposition vor Ort ist – anders als die atomfreundliche CDU – ungeduldig, will Taten sehen, glaubt ihm und selbst dem grünen Rainder Steenblock kaum mehr: „Das Untersuchungsdesign für die Fall-Kontroll-Studie von Professor Greiser aus Bremen zur Erforschung der Ursachen liegt vor, wir hoffen, die Aufträge bald vergeben zu können.“

Steenblocks gute Nachricht stößt im Saal auf Skepsis: „Ach ja, wann denn?“ „Wenn politisch und wissenschaftlich alles wasserdicht ist. Die Krebserkrankungen im Kreis Pinneberg sollen ja auch mit einbezogen werden...“ Steenblock kann seinen Satz nicht zu Ende führen. „Eine ähnliche Fallhäufung in Zeit und Raum gibt es nur hiiierrr! Handeln Sie hiiiierr!“

Plötzlich wird Rainder Steenblock blaß, die Stimme bebt. „Es ist mir relativ scheißegal“, bricht es dann aus ihm heraus, „ob das AKW oder die Baumschulen schuld sind. Alle Ursachen müssen bekämpft werden, ohne daß hier eine Region gegen die andere ausgespielt wird.“ Steenblock kämpft mit sich und der Vermischung von Politischem und Privatem: „Auch ich habe eine krebskranke Tochter, ich habe das alles durchgemacht, Strahlen-, Chemotherapie... Mir zu unterstellen, ich würde das alles nur verwalten, ist eine Sauerei!“

Dem betretenen Schweigen folgen Erläuterungen des Energieministers. Daß Krümmel während der derzeitigen Jahres-Revision auf seine Anordnung hin ganz genau untersucht wird – das Hydraulik-Preßverfahren, die Schweißnähte, der Druckbehälter: „Bisher haben wir nichts Auffälliges feststellen können.“ Ein Drittel des Saals applaudiert. „Das waren die von den HEW“, tönt es zur Erklärung aus dem Saal zurück.

Staunen. Zum ersten Mal seit Gründung der Geesthachter BIs wohnt die Krümmel-Belegschaft einer Anti-AKW-Veranstaltung bei. 370 Menschen arbeiten in Krümmel, und das Berliner Gerichtsurteil läßt sie um ihre Zukunft bangen. Deshalb sind sie hier. Ulrike Welte, Leiterin des Bereichs Überwachung in Krümmel, fordert gar, „daß man eben irgendwann zugeben muß, daß man die Leukämie-Ursachen nicht gefunden hat“. In Krümmel seien sie jedenfalls nicht zu suchen. Ihre „Schlichtheit des Populismus“, schießt Steenblock zurück, solle sie sich lieber sparen.

Immer wieder geht es um die Schweißnähte, die angeblich undicht sind. „Die Kerle von den HEW lügen alle in unterschiedlichem Maß“, und daß sie heute hier sitzen, „zeigt doch nur, daß ihnen das Wasser bis zum Hals steht“, schaubt einer. Denn daß es „chronische Leckagen“ gibt, daß aus dem Reaktor ausgetretene Radioaktivität „die Menschen hier verstrahlt hat“, das „schwören“ auch die Bremer Physikerin Ingeborg Schmitz-Feuerhake und der Kieler Toxikologe Ottmar Wassermann, beide Mitglieder der Leukämie-Expertenkommission. „Was für Indizien“, ruft Schmitz-Feuerhake, „soll ich Ihnen denn noch liefern, damit Sie endlich justitiable Fakten haben, mit denen sich die Abschaltung erwirken läßt?“

An dem Wunsch, Krümmel endlich der Stillegung überführen zu können, haben sich schon andere die Zähne ausgebissen. Wieland Körner zum Beispiel. Sachverständiger war er beim ersten Krümmel-Prozeß Ende der 80er Jahre in Lüneburg. „Ganze sechs Tage“, erinnert er sich, „durfte ich mir die HEW-Akten ansehen, streng bewacht von einem Sicherheitsdienst mit Maschinengewehr“. Niemand habe sich da die ganzen hochkomplizierten technischen Daten auf die Schnelle merken können.

Als die Veranstaltung nach vier Stunden um Mitternacht endet und eigentlich außer „ein Bier, bitte“ nichts mehr zu sagen wäre, macht die Kneipe gerade dicht.

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