: Die Ananas
Das mit der Cholera sagte Claudia mir erst Tage später. Die argwöhnischen Blicke einiger Passagiere hatte ich zwar bemerkt. Aber ich war zu beschäftigt, um darüber nachzudenken, ob sie mich über Bord werfen würden. Und am zweiten Abend wäre es mir auch schon egal gewesen.
Zwei Nächte und einen ganzen Tag hatte ich damit verbracht, mich von der Hängematte zur Toilette zu schleppen und wieder zurück. Beobachtet von 50 Augenpaaren, denn auf den offenen Decks dieser hölzernen Passagierschiffchen, die auf dem Amazonas und seinen Nebenflüssen verkehren, gibt es Privatsphäre nur hinter der Klotür. Sofern sie abschließbar ist. Ich verbrachte so manche Stunde an diesen äquatorialen Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1992 auf jenen Örtlichkeiten, obwohl sie mit dem Begriff Sanitäreinrichtung nur leidlich zutreffend zu beschreiben sind.
Am Heiligen Abend hatten Claudia und ich uns eine Ananas gegönnt, die wir bei der Abreise zwei Tage zuvor in Manaus gekauft hatten. Sie schmeckte bereits etwas gärig, aber das machte sie nur süßer. Ihre Rache war um so schlimmer. Ein paar Stunden später ging es los, forderte fünf Kilo und dauerte genauso viele Tage.
Am 2. Feiertag kamen wir in diese Dschungelstadt kurz vor der bolivianischen Grenze, und Claudia schleppte unsere Rucksäcke und ich mich von Bord. Wir tauschten die Hängematten im öffentlichen Raum gegen ein lauschiges Zimmer in einem Mittelklassehotel. Dessen größte Vorzüge bestanden in magenfreundlichem Tee, einer Auswahl an trockenem Gebäck und einer todesmutigen Putzfrau, die zweimal täglich, wenngleich leicht irritiert, das Bad desinfizierte.
Magen, Darm, Kreislauf und somit auch ich genasen, unbehelligt von den finsteren Blicken Mitreisender, die Claudia zu verstehen gegeben hatten, daß es kürzlich mehrere Cholera-Tote in der Gegend gegeben habe und daß sie es gar nicht schätzten, die Seuche an Bord zu haben.
Aber das gestand sie mir erst Sylvester, abends in einem Lokal, bei Fritten, Steak und Bier. smv
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen